Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

hat auf dem Lyceum der Vaterstadt ihren Anfang genommen, ist in Aix ge¬
kräftigt und in Paris zum Nutzen und Ruhm Frankreichs in hartem, gegen¬
seitig fördernden Wettbewerb der Freunde praktisch geübt worden.

Aber Nordau hat Recht, wenn er solch verschwindende goldene Ausnahmen
bei der Schilderung der trübseligen Regel, welche die französische College-Er¬
ziehung bildet, gar nicht erwähnt. Das College ist keine Volksschule, kein
Gymnasium, keine Realschule nach deutschen Begriffen. Es ist eine Kaserne
für Knaben bis zum Jünglingsalter, ja mehr als Kaserne, ein Gefängniß.
Kein Hauch der Elternliebe durchdringt die hohen kalten Mauern. Extreme
werden in allen diesen Anstalten kaum geduldet, die meisten sind reine Internate.
Einförmig und reizlos fließt das Leben Tag für Tag dahin. Kein Ausbruch
ungebundenen jugendlichen Frohsinns ist erlaubt. Die Ernährung der Zög¬
linge ist meist ebenso unzweckmäßig wie unzureichend. Leibesübungen sind
vernachlässigt. Bleichsüchtig, blutarm, schwächlich, kopfhängerisch, mit einge¬
sunkener Brust, schlaffer Haltung erscheinen die Zöglinge außerhalb der Mauern
des CoWge', in einem Alter, wo ihre Altersgenossen in Deutschland und England
als kräftige, rothbäckige, ausgelassene Jungen die Spielplätze und Turnhallen
erfüllen. Wie sollte es auch anders sein? Selbst der Knabe, der unbeschädigt
an Leib und Seele durch diese Hallen Jahrelang wandelt, in denen die
schlimmsten Laster geübt und gelehrt werden, wird immer mit Schrecken zurück¬
denken an deu jähen Wandel seines Geschickes, der ihn plötzlich ohne jeden
Uebergang aus dem Kreise liebevoller Angehöriger versetzte in eine völlig
gleichgiltige, gefühllose, meist feindselige Umgebung. "Die Wirkung auf das
junge Menschenleben," sagt Nordau schön, "ist dieselbe, wie die Wirkung des
kalten Wassers auf die flüssige Glasmasse, die in dasselbe geträufelt wird.
Wie der Glastropfen augenblicklich erstarrt und sich mit einer diamantharten
Rinde umgiebt, so umgiebt sich das Herz des Knaben mit einem Panzer von
Gefühllosigkeit, hinter den er alle Wärme und alle seinein Alter natürlichen
Expansionsbedttrfnisse zurückdrängt." Deshalb raubt auch die Erziehungs¬
methode des Collüge "den Franzosen einen der größten Schätze des Lebens:
die Poesie einer blühenden und leuchtenden Jugenderinnerung. Wenn der
Franzose auf sein Knabenalter zurückblickt, so sieht er kahle Schlafsäle, düstere
Corridore, pedantische Schnltyrannen und groteske oder boshafte Pions" (Auf-
seher). Namentlich die trostlose Rolle, die der Plon spielt, ein armer Teufel,
verachtet oder verwünscht von der Jugend; vor den Augen der Jngend, der er
Zucht lehren soll, würdelos abgekanzelt von dem ersten besten "Professor",
muß jede Disziplin und jede Achtung vor höherem Gebot schon in den frü¬
hesten Jahren des Knaben unheilbar zerstören.

Erkannt sind diese Schattenseiten längst von Renan wie von Girardin


hat auf dem Lyceum der Vaterstadt ihren Anfang genommen, ist in Aix ge¬
kräftigt und in Paris zum Nutzen und Ruhm Frankreichs in hartem, gegen¬
seitig fördernden Wettbewerb der Freunde praktisch geübt worden.

Aber Nordau hat Recht, wenn er solch verschwindende goldene Ausnahmen
bei der Schilderung der trübseligen Regel, welche die französische College-Er¬
ziehung bildet, gar nicht erwähnt. Das College ist keine Volksschule, kein
Gymnasium, keine Realschule nach deutschen Begriffen. Es ist eine Kaserne
für Knaben bis zum Jünglingsalter, ja mehr als Kaserne, ein Gefängniß.
Kein Hauch der Elternliebe durchdringt die hohen kalten Mauern. Extreme
werden in allen diesen Anstalten kaum geduldet, die meisten sind reine Internate.
Einförmig und reizlos fließt das Leben Tag für Tag dahin. Kein Ausbruch
ungebundenen jugendlichen Frohsinns ist erlaubt. Die Ernährung der Zög¬
linge ist meist ebenso unzweckmäßig wie unzureichend. Leibesübungen sind
vernachlässigt. Bleichsüchtig, blutarm, schwächlich, kopfhängerisch, mit einge¬
sunkener Brust, schlaffer Haltung erscheinen die Zöglinge außerhalb der Mauern
des CoWge', in einem Alter, wo ihre Altersgenossen in Deutschland und England
als kräftige, rothbäckige, ausgelassene Jungen die Spielplätze und Turnhallen
erfüllen. Wie sollte es auch anders sein? Selbst der Knabe, der unbeschädigt
an Leib und Seele durch diese Hallen Jahrelang wandelt, in denen die
schlimmsten Laster geübt und gelehrt werden, wird immer mit Schrecken zurück¬
denken an deu jähen Wandel seines Geschickes, der ihn plötzlich ohne jeden
Uebergang aus dem Kreise liebevoller Angehöriger versetzte in eine völlig
gleichgiltige, gefühllose, meist feindselige Umgebung. „Die Wirkung auf das
junge Menschenleben," sagt Nordau schön, „ist dieselbe, wie die Wirkung des
kalten Wassers auf die flüssige Glasmasse, die in dasselbe geträufelt wird.
Wie der Glastropfen augenblicklich erstarrt und sich mit einer diamantharten
Rinde umgiebt, so umgiebt sich das Herz des Knaben mit einem Panzer von
Gefühllosigkeit, hinter den er alle Wärme und alle seinein Alter natürlichen
Expansionsbedttrfnisse zurückdrängt." Deshalb raubt auch die Erziehungs¬
methode des Collüge „den Franzosen einen der größten Schätze des Lebens:
die Poesie einer blühenden und leuchtenden Jugenderinnerung. Wenn der
Franzose auf sein Knabenalter zurückblickt, so sieht er kahle Schlafsäle, düstere
Corridore, pedantische Schnltyrannen und groteske oder boshafte Pions" (Auf-
seher). Namentlich die trostlose Rolle, die der Plon spielt, ein armer Teufel,
verachtet oder verwünscht von der Jugend; vor den Augen der Jngend, der er
Zucht lehren soll, würdelos abgekanzelt von dem ersten besten „Professor",
muß jede Disziplin und jede Achtung vor höherem Gebot schon in den frü¬
hesten Jahren des Knaben unheilbar zerstören.

Erkannt sind diese Schattenseiten längst von Renan wie von Girardin


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0312" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/140133"/>
          <p xml:id="ID_918" prev="#ID_917"> hat auf dem Lyceum der Vaterstadt ihren Anfang genommen, ist in Aix ge¬<lb/>
kräftigt und in Paris zum Nutzen und Ruhm Frankreichs in hartem, gegen¬<lb/>
seitig fördernden Wettbewerb der Freunde praktisch geübt worden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_919"> Aber Nordau hat Recht, wenn er solch verschwindende goldene Ausnahmen<lb/>
bei der Schilderung der trübseligen Regel, welche die französische College-Er¬<lb/>
ziehung bildet, gar nicht erwähnt. Das College ist keine Volksschule, kein<lb/>
Gymnasium, keine Realschule nach deutschen Begriffen. Es ist eine Kaserne<lb/>
für Knaben bis zum Jünglingsalter, ja mehr als Kaserne, ein Gefängniß.<lb/>
Kein Hauch der Elternliebe durchdringt die hohen kalten Mauern. Extreme<lb/>
werden in allen diesen Anstalten kaum geduldet, die meisten sind reine Internate.<lb/>
Einförmig und reizlos fließt das Leben Tag für Tag dahin. Kein Ausbruch<lb/>
ungebundenen jugendlichen Frohsinns ist erlaubt. Die Ernährung der Zög¬<lb/>
linge ist meist ebenso unzweckmäßig wie unzureichend. Leibesübungen sind<lb/>
vernachlässigt. Bleichsüchtig, blutarm, schwächlich, kopfhängerisch, mit einge¬<lb/>
sunkener Brust, schlaffer Haltung erscheinen die Zöglinge außerhalb der Mauern<lb/>
des CoWge', in einem Alter, wo ihre Altersgenossen in Deutschland und England<lb/>
als kräftige, rothbäckige, ausgelassene Jungen die Spielplätze und Turnhallen<lb/>
erfüllen. Wie sollte es auch anders sein? Selbst der Knabe, der unbeschädigt<lb/>
an Leib und Seele durch diese Hallen Jahrelang wandelt, in denen die<lb/>
schlimmsten Laster geübt und gelehrt werden, wird immer mit Schrecken zurück¬<lb/>
denken an deu jähen Wandel seines Geschickes, der ihn plötzlich ohne jeden<lb/>
Uebergang aus dem Kreise liebevoller Angehöriger versetzte in eine völlig<lb/>
gleichgiltige, gefühllose, meist feindselige Umgebung. &#x201E;Die Wirkung auf das<lb/>
junge Menschenleben," sagt Nordau schön, &#x201E;ist dieselbe, wie die Wirkung des<lb/>
kalten Wassers auf die flüssige Glasmasse, die in dasselbe geträufelt wird.<lb/>
Wie der Glastropfen augenblicklich erstarrt und sich mit einer diamantharten<lb/>
Rinde umgiebt, so umgiebt sich das Herz des Knaben mit einem Panzer von<lb/>
Gefühllosigkeit, hinter den er alle Wärme und alle seinein Alter natürlichen<lb/>
Expansionsbedttrfnisse zurückdrängt." Deshalb raubt auch die Erziehungs¬<lb/>
methode des Collüge &#x201E;den Franzosen einen der größten Schätze des Lebens:<lb/>
die Poesie einer blühenden und leuchtenden Jugenderinnerung. Wenn der<lb/>
Franzose auf sein Knabenalter zurückblickt, so sieht er kahle Schlafsäle, düstere<lb/>
Corridore, pedantische Schnltyrannen und groteske oder boshafte Pions" (Auf-<lb/>
seher). Namentlich die trostlose Rolle, die der Plon spielt, ein armer Teufel,<lb/>
verachtet oder verwünscht von der Jugend; vor den Augen der Jngend, der er<lb/>
Zucht lehren soll, würdelos abgekanzelt von dem ersten besten &#x201E;Professor",<lb/>
muß jede Disziplin und jede Achtung vor höherem Gebot schon in den frü¬<lb/>
hesten Jahren des Knaben unheilbar zerstören.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_920" next="#ID_921"> Erkannt sind diese Schattenseiten längst von Renan wie von Girardin</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0312] hat auf dem Lyceum der Vaterstadt ihren Anfang genommen, ist in Aix ge¬ kräftigt und in Paris zum Nutzen und Ruhm Frankreichs in hartem, gegen¬ seitig fördernden Wettbewerb der Freunde praktisch geübt worden. Aber Nordau hat Recht, wenn er solch verschwindende goldene Ausnahmen bei der Schilderung der trübseligen Regel, welche die französische College-Er¬ ziehung bildet, gar nicht erwähnt. Das College ist keine Volksschule, kein Gymnasium, keine Realschule nach deutschen Begriffen. Es ist eine Kaserne für Knaben bis zum Jünglingsalter, ja mehr als Kaserne, ein Gefängniß. Kein Hauch der Elternliebe durchdringt die hohen kalten Mauern. Extreme werden in allen diesen Anstalten kaum geduldet, die meisten sind reine Internate. Einförmig und reizlos fließt das Leben Tag für Tag dahin. Kein Ausbruch ungebundenen jugendlichen Frohsinns ist erlaubt. Die Ernährung der Zög¬ linge ist meist ebenso unzweckmäßig wie unzureichend. Leibesübungen sind vernachlässigt. Bleichsüchtig, blutarm, schwächlich, kopfhängerisch, mit einge¬ sunkener Brust, schlaffer Haltung erscheinen die Zöglinge außerhalb der Mauern des CoWge', in einem Alter, wo ihre Altersgenossen in Deutschland und England als kräftige, rothbäckige, ausgelassene Jungen die Spielplätze und Turnhallen erfüllen. Wie sollte es auch anders sein? Selbst der Knabe, der unbeschädigt an Leib und Seele durch diese Hallen Jahrelang wandelt, in denen die schlimmsten Laster geübt und gelehrt werden, wird immer mit Schrecken zurück¬ denken an deu jähen Wandel seines Geschickes, der ihn plötzlich ohne jeden Uebergang aus dem Kreise liebevoller Angehöriger versetzte in eine völlig gleichgiltige, gefühllose, meist feindselige Umgebung. „Die Wirkung auf das junge Menschenleben," sagt Nordau schön, „ist dieselbe, wie die Wirkung des kalten Wassers auf die flüssige Glasmasse, die in dasselbe geträufelt wird. Wie der Glastropfen augenblicklich erstarrt und sich mit einer diamantharten Rinde umgiebt, so umgiebt sich das Herz des Knaben mit einem Panzer von Gefühllosigkeit, hinter den er alle Wärme und alle seinein Alter natürlichen Expansionsbedttrfnisse zurückdrängt." Deshalb raubt auch die Erziehungs¬ methode des Collüge „den Franzosen einen der größten Schätze des Lebens: die Poesie einer blühenden und leuchtenden Jugenderinnerung. Wenn der Franzose auf sein Knabenalter zurückblickt, so sieht er kahle Schlafsäle, düstere Corridore, pedantische Schnltyrannen und groteske oder boshafte Pions" (Auf- seher). Namentlich die trostlose Rolle, die der Plon spielt, ein armer Teufel, verachtet oder verwünscht von der Jugend; vor den Augen der Jngend, der er Zucht lehren soll, würdelos abgekanzelt von dem ersten besten „Professor", muß jede Disziplin und jede Achtung vor höherem Gebot schon in den frü¬ hesten Jahren des Knaben unheilbar zerstören. Erkannt sind diese Schattenseiten längst von Renan wie von Girardin

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/312
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/312>, abgerufen am 01.09.2024.