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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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einen Vorzug hervorzuheben, der namentlich die zweite Hälfte seines ersten
Bandes auszeichnet; sie bietet nämlich eine treffliche Grundlage zu völkerver-
gleichenden Erörterungen. Das gilt namentlich auch von den drei folgenden
Kapiteln: "Kindererziehung und Jugendleben", "Väterchen Staat", "Die offi¬
ziellen Carrieren in Frankreich". Man sieht hier aus einem sehr fragwürdi¬
gen Erziehungssystem den ungesunden Ehrgeiz der ganzen Nation heraus¬
wachsen. Eigentlich gehört der ganze weitere Inhalt des zweiten Bandes zu
derselben Betrachtung mit. Denn der Artikel über "die Bohvme" und "die
Journalistik der Bohöme" soll doch nur, im Gegensatz zu den "offiziellen
Carrieren", die nicht offiziellen, höchst ungewöhnlichen Carrieren der ver¬
dorbenen Genies kennzeichnen, die Abhandlung "Das Weib und seine Stel¬
lung in Paris" soll uns zeigen, wie das französische Erziehungssystem ans
das weibliche Geschlecht wirkt, das Kapitel "Die Frömmigkeitsmode" verfolgt
ein krankhaftes Einzelsymptom dieser Erziehung, der Abschnitt "Das Jung-
gesellenthum" und "Salons und Causerie" vervollständigt das Bild der Ge¬
sellschaft, die auf solcher Methode heranwächst. Der beinahe vollständige
Mangel an Gemüth, den dieses Erziehungssystem herbeizuführen versteht, ist
uach einer Seite hin besonders klar bezeichnet durch den vorletzten Artikel des
ersten Bandes: "Das Lied in Paris." Denn hier wird nachgewiesen, daß das
Volkslied dort nur uoch im Munde von Bettlern lebt. "Wenn der Pariser
ein Volkslied hört, so greift er mechanisch in die Tasche um einen Sou zu
suchen." In: Schlnßartikel endlich, "Paris und die Fremden", ist gezeigt, wie
diese Gesellschaft dem Auge des Fremden erscheinen muß. Nachdem wir so
den inneren Zusammenhang dieser scheinbar willkürlich aneinander gereihten
Abhandlungen nachgewiesen, heben wir ihren bemerkenswerthesten Inhalt hervor.

In seiner Abhandlung über "Kindererziehung und Jugendleben" in Paris
lveist der Verfasser uach, daß das Erziehungssystem in Paris, ja in dem
größeren Theile von Frankreich an allen Schattenseiten des Konvicts- und
Stiftswesens krankt, ohne dagegen kaum eine einzige seiner Lichtseiten zu bieten.
Bei uns sind die reichsten und individuell ausgeprägtesten Talente der Nation
hinter den klosterähnlichen Mauern einer "Fürstenschnle", eines "Stiftes" er-
öogen worden -- wie viele der bedeutendsten Geister in dem einzigen Schul-
pforta, in Meißen oder Tübingen -- Beweis genug, daß diese Art der Erzie¬
hung bei uns niemals die Individualität verkümmert hat. Die tiefe und reine
Freude an deutscher Wissenschaft hat in diesen Anstalten bei vielen unserer
besten Männer ihren Anfang genommen; Freundschaften fürs Leben sind hier
geschlossen worden, die der ganzen Nation später fruchtbaren Segen gespendet.
Wer wollte leugnen, daß die französischen Colleges und Lycees ausnahmsweise
uicht Aehnliches erzielten. Die treue Freundschaft zwischen Thiers und Mignet


einen Vorzug hervorzuheben, der namentlich die zweite Hälfte seines ersten
Bandes auszeichnet; sie bietet nämlich eine treffliche Grundlage zu völkerver-
gleichenden Erörterungen. Das gilt namentlich auch von den drei folgenden
Kapiteln: „Kindererziehung und Jugendleben", „Väterchen Staat", „Die offi¬
ziellen Carrieren in Frankreich". Man sieht hier aus einem sehr fragwürdi¬
gen Erziehungssystem den ungesunden Ehrgeiz der ganzen Nation heraus¬
wachsen. Eigentlich gehört der ganze weitere Inhalt des zweiten Bandes zu
derselben Betrachtung mit. Denn der Artikel über „die Bohvme" und „die
Journalistik der Bohöme" soll doch nur, im Gegensatz zu den „offiziellen
Carrieren", die nicht offiziellen, höchst ungewöhnlichen Carrieren der ver¬
dorbenen Genies kennzeichnen, die Abhandlung „Das Weib und seine Stel¬
lung in Paris" soll uns zeigen, wie das französische Erziehungssystem ans
das weibliche Geschlecht wirkt, das Kapitel „Die Frömmigkeitsmode" verfolgt
ein krankhaftes Einzelsymptom dieser Erziehung, der Abschnitt „Das Jung-
gesellenthum" und „Salons und Causerie" vervollständigt das Bild der Ge¬
sellschaft, die auf solcher Methode heranwächst. Der beinahe vollständige
Mangel an Gemüth, den dieses Erziehungssystem herbeizuführen versteht, ist
uach einer Seite hin besonders klar bezeichnet durch den vorletzten Artikel des
ersten Bandes: „Das Lied in Paris." Denn hier wird nachgewiesen, daß das
Volkslied dort nur uoch im Munde von Bettlern lebt. „Wenn der Pariser
ein Volkslied hört, so greift er mechanisch in die Tasche um einen Sou zu
suchen." In: Schlnßartikel endlich, „Paris und die Fremden", ist gezeigt, wie
diese Gesellschaft dem Auge des Fremden erscheinen muß. Nachdem wir so
den inneren Zusammenhang dieser scheinbar willkürlich aneinander gereihten
Abhandlungen nachgewiesen, heben wir ihren bemerkenswerthesten Inhalt hervor.

In seiner Abhandlung über „Kindererziehung und Jugendleben" in Paris
lveist der Verfasser uach, daß das Erziehungssystem in Paris, ja in dem
größeren Theile von Frankreich an allen Schattenseiten des Konvicts- und
Stiftswesens krankt, ohne dagegen kaum eine einzige seiner Lichtseiten zu bieten.
Bei uns sind die reichsten und individuell ausgeprägtesten Talente der Nation
hinter den klosterähnlichen Mauern einer „Fürstenschnle", eines „Stiftes" er-
öogen worden — wie viele der bedeutendsten Geister in dem einzigen Schul-
pforta, in Meißen oder Tübingen — Beweis genug, daß diese Art der Erzie¬
hung bei uns niemals die Individualität verkümmert hat. Die tiefe und reine
Freude an deutscher Wissenschaft hat in diesen Anstalten bei vielen unserer
besten Männer ihren Anfang genommen; Freundschaften fürs Leben sind hier
geschlossen worden, die der ganzen Nation später fruchtbaren Segen gespendet.
Wer wollte leugnen, daß die französischen Colleges und Lycees ausnahmsweise
uicht Aehnliches erzielten. Die treue Freundschaft zwischen Thiers und Mignet


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[0311] einen Vorzug hervorzuheben, der namentlich die zweite Hälfte seines ersten Bandes auszeichnet; sie bietet nämlich eine treffliche Grundlage zu völkerver- gleichenden Erörterungen. Das gilt namentlich auch von den drei folgenden Kapiteln: „Kindererziehung und Jugendleben", „Väterchen Staat", „Die offi¬ ziellen Carrieren in Frankreich". Man sieht hier aus einem sehr fragwürdi¬ gen Erziehungssystem den ungesunden Ehrgeiz der ganzen Nation heraus¬ wachsen. Eigentlich gehört der ganze weitere Inhalt des zweiten Bandes zu derselben Betrachtung mit. Denn der Artikel über „die Bohvme" und „die Journalistik der Bohöme" soll doch nur, im Gegensatz zu den „offiziellen Carrieren", die nicht offiziellen, höchst ungewöhnlichen Carrieren der ver¬ dorbenen Genies kennzeichnen, die Abhandlung „Das Weib und seine Stel¬ lung in Paris" soll uns zeigen, wie das französische Erziehungssystem ans das weibliche Geschlecht wirkt, das Kapitel „Die Frömmigkeitsmode" verfolgt ein krankhaftes Einzelsymptom dieser Erziehung, der Abschnitt „Das Jung- gesellenthum" und „Salons und Causerie" vervollständigt das Bild der Ge¬ sellschaft, die auf solcher Methode heranwächst. Der beinahe vollständige Mangel an Gemüth, den dieses Erziehungssystem herbeizuführen versteht, ist uach einer Seite hin besonders klar bezeichnet durch den vorletzten Artikel des ersten Bandes: „Das Lied in Paris." Denn hier wird nachgewiesen, daß das Volkslied dort nur uoch im Munde von Bettlern lebt. „Wenn der Pariser ein Volkslied hört, so greift er mechanisch in die Tasche um einen Sou zu suchen." In: Schlnßartikel endlich, „Paris und die Fremden", ist gezeigt, wie diese Gesellschaft dem Auge des Fremden erscheinen muß. Nachdem wir so den inneren Zusammenhang dieser scheinbar willkürlich aneinander gereihten Abhandlungen nachgewiesen, heben wir ihren bemerkenswerthesten Inhalt hervor. In seiner Abhandlung über „Kindererziehung und Jugendleben" in Paris lveist der Verfasser uach, daß das Erziehungssystem in Paris, ja in dem größeren Theile von Frankreich an allen Schattenseiten des Konvicts- und Stiftswesens krankt, ohne dagegen kaum eine einzige seiner Lichtseiten zu bieten. Bei uns sind die reichsten und individuell ausgeprägtesten Talente der Nation hinter den klosterähnlichen Mauern einer „Fürstenschnle", eines „Stiftes" er- öogen worden — wie viele der bedeutendsten Geister in dem einzigen Schul- pforta, in Meißen oder Tübingen — Beweis genug, daß diese Art der Erzie¬ hung bei uns niemals die Individualität verkümmert hat. Die tiefe und reine Freude an deutscher Wissenschaft hat in diesen Anstalten bei vielen unserer besten Männer ihren Anfang genommen; Freundschaften fürs Leben sind hier geschlossen worden, die der ganzen Nation später fruchtbaren Segen gespendet. Wer wollte leugnen, daß die französischen Colleges und Lycees ausnahmsweise uicht Aehnliches erzielten. Die treue Freundschaft zwischen Thiers und Mignet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/311>, abgerufen am 01.09.2024.