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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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letarischer Wirthschaft mit besonders mißgünstigem Auge verfolge, der lese sein
Kapitel über die "Champs Elysees", wo er den hohlen Glanz der Reichen
und Geschwollenen und des geschmückten Lasters und das grobe Gepränge der
bürgerlichen Hochzeitskutschen so tren schildert; der lese die furchtbar wahren
Einzelheiten, die der Arzt aus der Geschichte und den bis in die jüngsten Tage
reichenden Ersahrungen des nun abgetragenen "Hotel Dien" -- des alten
Spitals vou Paris -- giebt. Die Menschenpeiu und Herzlosigkeit, die hier
unter dem Namen Gottes an den "Gästen Gottes" von den frommen Diene¬
rinnen Gottes geübt und zugelassen wurde, spottet jeder gedrängten Wieder¬
gabe, man muß das im Original nachlesen. Auch das Kapitel über die Cafe's
zeugt von durchaus selbständigem Urtheil des Verfassers; denn das Pariser
Cafe pflegt ja den Fremden mit am meisten zu blenden. Aber in seiner Ge¬
ringschätzung der Pariser Cas6's gegenüber den Wienern spricht bei dem Ver¬
fasser doch wohl das österreichische Nationalgefühl etwas zu lebhaft mit. Sehr
hübsch ist namentlich die Schilderung des Cas6 Procope, das vou Voltaire
bis Gcunbetta fast alle literarischen und parlamentarischen Berühmtheiten von
Paris zu Stammgästen zählte. Hier berühmt sich der Kellner seiner "Intimität"
"in Gambetta und setzt mit einer seinen Nüance von Ueberlegenheit hinzu:
"Uebrigens ist Herr Gambetta nicht der Kunde, auf den wir am stolzesten Simb-
schen Sie dort, in der Ecke, den Marmortisch? An diesem Tische ist Herr
v. Voltaire fünfzehn Jahre lang täglich gesessen und hat seine Briefe an seinen
Freund, den König von Preußen, geschrieben." Freilich, der Kellner des Cafe
Procope muß das wissen.

Mit einer Richtigstellung der Begriffe, die der Ausländer sich, verleitet
durch englische Bezeichnungen und Vorstellungen, von den Pariser Klubs oder
Cerkles macht, schließt der erste Theil des ersten Bandes. Nordau erklärt diese
Gesellschaften fast ausnahmslos für Spielhöllen, für den kümmerlichen Ersatz
der Häuslichkeit, mit dem das immer mehr in Paris überhandnehmende Jung-
gesellenthum seine Abende und Nächte ausfülle. Und er weist an glaubhaften
französischen Quellen nach, daß nicht selten die Wucherer, die den Mitgliedern
des Cercles zu ungeheuren Zinsen Spieldarlehne machen, die Weinlieseranten,
welche die Mitglieder betrügen, die Unredlichen, welche die Gesellschaft bestehlen,
selbst Mitglieder sind.

Wir wenden uus nunmehr zunächst zum Leben der Pariser.




letarischer Wirthschaft mit besonders mißgünstigem Auge verfolge, der lese sein
Kapitel über die „Champs Elysees", wo er den hohlen Glanz der Reichen
und Geschwollenen und des geschmückten Lasters und das grobe Gepränge der
bürgerlichen Hochzeitskutschen so tren schildert; der lese die furchtbar wahren
Einzelheiten, die der Arzt aus der Geschichte und den bis in die jüngsten Tage
reichenden Ersahrungen des nun abgetragenen „Hotel Dien" — des alten
Spitals vou Paris — giebt. Die Menschenpeiu und Herzlosigkeit, die hier
unter dem Namen Gottes an den „Gästen Gottes" von den frommen Diene¬
rinnen Gottes geübt und zugelassen wurde, spottet jeder gedrängten Wieder¬
gabe, man muß das im Original nachlesen. Auch das Kapitel über die Cafe's
zeugt von durchaus selbständigem Urtheil des Verfassers; denn das Pariser
Cafe pflegt ja den Fremden mit am meisten zu blenden. Aber in seiner Ge¬
ringschätzung der Pariser Cas6's gegenüber den Wienern spricht bei dem Ver¬
fasser doch wohl das österreichische Nationalgefühl etwas zu lebhaft mit. Sehr
hübsch ist namentlich die Schilderung des Cas6 Procope, das vou Voltaire
bis Gcunbetta fast alle literarischen und parlamentarischen Berühmtheiten von
Paris zu Stammgästen zählte. Hier berühmt sich der Kellner seiner „Intimität"
»in Gambetta und setzt mit einer seinen Nüance von Ueberlegenheit hinzu:
„Uebrigens ist Herr Gambetta nicht der Kunde, auf den wir am stolzesten Simb-
schen Sie dort, in der Ecke, den Marmortisch? An diesem Tische ist Herr
v. Voltaire fünfzehn Jahre lang täglich gesessen und hat seine Briefe an seinen
Freund, den König von Preußen, geschrieben." Freilich, der Kellner des Cafe
Procope muß das wissen.

Mit einer Richtigstellung der Begriffe, die der Ausländer sich, verleitet
durch englische Bezeichnungen und Vorstellungen, von den Pariser Klubs oder
Cerkles macht, schließt der erste Theil des ersten Bandes. Nordau erklärt diese
Gesellschaften fast ausnahmslos für Spielhöllen, für den kümmerlichen Ersatz
der Häuslichkeit, mit dem das immer mehr in Paris überhandnehmende Jung-
gesellenthum seine Abende und Nächte ausfülle. Und er weist an glaubhaften
französischen Quellen nach, daß nicht selten die Wucherer, die den Mitgliedern
des Cercles zu ungeheuren Zinsen Spieldarlehne machen, die Weinlieseranten,
welche die Mitglieder betrügen, die Unredlichen, welche die Gesellschaft bestehlen,
selbst Mitglieder sind.

Wir wenden uus nunmehr zunächst zum Leben der Pariser.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/271>, abgerufen am 29.12.2024.