Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ville" entspricht ungefähr jenem normal-Elendsbild,, welches der "Vorwärts"
und andere sozialistische Vollblutblätter als den unabänderlichen Typus der
Wohnstätte des Arbeiters zeichnen. Das Neue und Wahre, das Nordan der
Natur entnimmt, ist jedoch der reale Schmutz dieses Arbeiterviertels, den der
"Vorwärts" bekanntlich an Arbeitersitzen nicht kennt. In den sozialistischen
Organen ist der Arbeiter immer "so reinlich und so zweifelsohne", bei Nordau
strotzt das Quartier, in dem die Kommune das Licht der Welt erblickte, von
Schmutz, den lediglich die Arbeiter, nicht die Bourgeois zu verantworten haben.
Greulich verwahrlost ist das Familienleben in dieser Brutstätte des Volks¬
staates nach dem Herzen der Sozialisten. Die seltenste Ausnahme bildet die
legitime Ehe. Mit der "Freundin" paart sich der "Arbeiter" in freier Liebe,
bis er glaubt, daß es Zeit sei, ein anderes Verhältniß einzugehen. Viele
Paare halten freilich anch Jahrzehnte nebeneinander aus, ohne jemals die
Förmlichkeiten des Standesamtes oder gar der Kirche passirt zu haben. Jam¬
mervoll ist die Kindheit derer, die ans solcher Verbindung hervorgehen. Be-
neidenswerth ist verhältnißmäßig noch das Schicksal der Kinder, die vom frühen
Morgen bis zum Abend sich selbst überlassen, auf den Straßen sich herum¬
balgen, bleich, verhungert, von einer starrenden Schmutzfchichte überzogen, und
des Abends ungerufen ihren Wohnungen zuschleichen, um vielleicht etwas
zu essen zu bekommen. -- Sie kennen doch wenigstens diejenigen, die sich ihre
Eltern nennen und empfangen von ihnen in guten Stunden wohl auch ein
Liebeswort. Aber neun Zehntel aller Arbeiterkinder von Belleville und Mont¬
martre werden von den unnatürlichen Eltern jenem Surrogat der Findelhäuser,
der ^.ssisteureö xudlicMv übergeben, d. h. auf Kosten der Gemeinde großge¬
zogen! Wie es hier mit der Befriedigung der einfachsten Bedürfnisse der Kind¬
heit, mit der Sterblichkeit der armen kleinen Wesen bestellt ist, das lehrt jeder
statistische Bericht der betreffenden Aemter. Der Verfasser wird sich ein Ver¬
dienst erwerben, wenn er die neuesten dieser Berichte eiuer zweiten Auflage
seines Buches beifügen wird. Sie bieten eine schaurige Illustration zu den
gemeinsamen Kinderstuben des Volksstaates der Zukunft!

Wir sagten, es sei allein die Schuld der Eltern, nicht Unvermögen der¬
selben, die sie veranlaßt, die heiligsten Bande des Blutes und die Pflichten,
die selbst das Thier bis zur letzten Kraft übt, so mit Füßen zu treten. Wir
sind dem Verfasser besonders dankbar, daß er in dieser Hinsicht so reiches
Material zur Beurtheilung bietet. Er hat einen großen Theil seiner Zeit in
Paris in den Spitälern verbracht, deren größter Bestand sich allezeit aus diesen
Kreisen rekrutirt, und er hat bei Hunderten und Tausenden erkundet, wie sie
die Tage der Gesundheit und ihren Erwerb zu verwenden pflegten. Da ist
denn sicher, daß Mann und Weib, die eine Arbeiterfamilie gründen, fast Alles


Grenzboten II. 1L7L. !!4

ville" entspricht ungefähr jenem normal-Elendsbild,, welches der „Vorwärts"
und andere sozialistische Vollblutblätter als den unabänderlichen Typus der
Wohnstätte des Arbeiters zeichnen. Das Neue und Wahre, das Nordan der
Natur entnimmt, ist jedoch der reale Schmutz dieses Arbeiterviertels, den der
„Vorwärts" bekanntlich an Arbeitersitzen nicht kennt. In den sozialistischen
Organen ist der Arbeiter immer „so reinlich und so zweifelsohne", bei Nordau
strotzt das Quartier, in dem die Kommune das Licht der Welt erblickte, von
Schmutz, den lediglich die Arbeiter, nicht die Bourgeois zu verantworten haben.
Greulich verwahrlost ist das Familienleben in dieser Brutstätte des Volks¬
staates nach dem Herzen der Sozialisten. Die seltenste Ausnahme bildet die
legitime Ehe. Mit der „Freundin" paart sich der „Arbeiter" in freier Liebe,
bis er glaubt, daß es Zeit sei, ein anderes Verhältniß einzugehen. Viele
Paare halten freilich anch Jahrzehnte nebeneinander aus, ohne jemals die
Förmlichkeiten des Standesamtes oder gar der Kirche passirt zu haben. Jam¬
mervoll ist die Kindheit derer, die ans solcher Verbindung hervorgehen. Be-
neidenswerth ist verhältnißmäßig noch das Schicksal der Kinder, die vom frühen
Morgen bis zum Abend sich selbst überlassen, auf den Straßen sich herum¬
balgen, bleich, verhungert, von einer starrenden Schmutzfchichte überzogen, und
des Abends ungerufen ihren Wohnungen zuschleichen, um vielleicht etwas
zu essen zu bekommen. — Sie kennen doch wenigstens diejenigen, die sich ihre
Eltern nennen und empfangen von ihnen in guten Stunden wohl auch ein
Liebeswort. Aber neun Zehntel aller Arbeiterkinder von Belleville und Mont¬
martre werden von den unnatürlichen Eltern jenem Surrogat der Findelhäuser,
der ^.ssisteureö xudlicMv übergeben, d. h. auf Kosten der Gemeinde großge¬
zogen! Wie es hier mit der Befriedigung der einfachsten Bedürfnisse der Kind¬
heit, mit der Sterblichkeit der armen kleinen Wesen bestellt ist, das lehrt jeder
statistische Bericht der betreffenden Aemter. Der Verfasser wird sich ein Ver¬
dienst erwerben, wenn er die neuesten dieser Berichte eiuer zweiten Auflage
seines Buches beifügen wird. Sie bieten eine schaurige Illustration zu den
gemeinsamen Kinderstuben des Volksstaates der Zukunft!

Wir sagten, es sei allein die Schuld der Eltern, nicht Unvermögen der¬
selben, die sie veranlaßt, die heiligsten Bande des Blutes und die Pflichten,
die selbst das Thier bis zur letzten Kraft übt, so mit Füßen zu treten. Wir
sind dem Verfasser besonders dankbar, daß er in dieser Hinsicht so reiches
Material zur Beurtheilung bietet. Er hat einen großen Theil seiner Zeit in
Paris in den Spitälern verbracht, deren größter Bestand sich allezeit aus diesen
Kreisen rekrutirt, und er hat bei Hunderten und Tausenden erkundet, wie sie
die Tage der Gesundheit und ihren Erwerb zu verwenden pflegten. Da ist
denn sicher, daß Mann und Weib, die eine Arbeiterfamilie gründen, fast Alles


Grenzboten II. 1L7L. !!4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0269" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/140090"/>
          <p xml:id="ID_809" prev="#ID_808"> ville" entspricht ungefähr jenem normal-Elendsbild,, welches der &#x201E;Vorwärts"<lb/>
und andere sozialistische Vollblutblätter als den unabänderlichen Typus der<lb/>
Wohnstätte des Arbeiters zeichnen. Das Neue und Wahre, das Nordan der<lb/>
Natur entnimmt, ist jedoch der reale Schmutz dieses Arbeiterviertels, den der<lb/>
&#x201E;Vorwärts" bekanntlich an Arbeitersitzen nicht kennt. In den sozialistischen<lb/>
Organen ist der Arbeiter immer &#x201E;so reinlich und so zweifelsohne", bei Nordau<lb/>
strotzt das Quartier, in dem die Kommune das Licht der Welt erblickte, von<lb/>
Schmutz, den lediglich die Arbeiter, nicht die Bourgeois zu verantworten haben.<lb/>
Greulich verwahrlost ist das Familienleben in dieser Brutstätte des Volks¬<lb/>
staates nach dem Herzen der Sozialisten. Die seltenste Ausnahme bildet die<lb/>
legitime Ehe. Mit der &#x201E;Freundin" paart sich der &#x201E;Arbeiter" in freier Liebe,<lb/>
bis er glaubt, daß es Zeit sei, ein anderes Verhältniß einzugehen. Viele<lb/>
Paare halten freilich anch Jahrzehnte nebeneinander aus, ohne jemals die<lb/>
Förmlichkeiten des Standesamtes oder gar der Kirche passirt zu haben. Jam¬<lb/>
mervoll ist die Kindheit derer, die ans solcher Verbindung hervorgehen. Be-<lb/>
neidenswerth ist verhältnißmäßig noch das Schicksal der Kinder, die vom frühen<lb/>
Morgen bis zum Abend sich selbst überlassen, auf den Straßen sich herum¬<lb/>
balgen, bleich, verhungert, von einer starrenden Schmutzfchichte überzogen, und<lb/>
des Abends ungerufen ihren Wohnungen zuschleichen, um vielleicht etwas<lb/>
zu essen zu bekommen. &#x2014; Sie kennen doch wenigstens diejenigen, die sich ihre<lb/>
Eltern nennen und empfangen von ihnen in guten Stunden wohl auch ein<lb/>
Liebeswort. Aber neun Zehntel aller Arbeiterkinder von Belleville und Mont¬<lb/>
martre werden von den unnatürlichen Eltern jenem Surrogat der Findelhäuser,<lb/>
der ^.ssisteureö xudlicMv übergeben, d. h. auf Kosten der Gemeinde großge¬<lb/>
zogen! Wie es hier mit der Befriedigung der einfachsten Bedürfnisse der Kind¬<lb/>
heit, mit der Sterblichkeit der armen kleinen Wesen bestellt ist, das lehrt jeder<lb/>
statistische Bericht der betreffenden Aemter. Der Verfasser wird sich ein Ver¬<lb/>
dienst erwerben, wenn er die neuesten dieser Berichte eiuer zweiten Auflage<lb/>
seines Buches beifügen wird. Sie bieten eine schaurige Illustration zu den<lb/>
gemeinsamen Kinderstuben des Volksstaates der Zukunft!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_810" next="#ID_811"> Wir sagten, es sei allein die Schuld der Eltern, nicht Unvermögen der¬<lb/>
selben, die sie veranlaßt, die heiligsten Bande des Blutes und die Pflichten,<lb/>
die selbst das Thier bis zur letzten Kraft übt, so mit Füßen zu treten. Wir<lb/>
sind dem Verfasser besonders dankbar, daß er in dieser Hinsicht so reiches<lb/>
Material zur Beurtheilung bietet. Er hat einen großen Theil seiner Zeit in<lb/>
Paris in den Spitälern verbracht, deren größter Bestand sich allezeit aus diesen<lb/>
Kreisen rekrutirt, und er hat bei Hunderten und Tausenden erkundet, wie sie<lb/>
die Tage der Gesundheit und ihren Erwerb zu verwenden pflegten. Da ist<lb/>
denn sicher, daß Mann und Weib, die eine Arbeiterfamilie gründen, fast Alles</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1L7L. !!4</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0269] ville" entspricht ungefähr jenem normal-Elendsbild,, welches der „Vorwärts" und andere sozialistische Vollblutblätter als den unabänderlichen Typus der Wohnstätte des Arbeiters zeichnen. Das Neue und Wahre, das Nordan der Natur entnimmt, ist jedoch der reale Schmutz dieses Arbeiterviertels, den der „Vorwärts" bekanntlich an Arbeitersitzen nicht kennt. In den sozialistischen Organen ist der Arbeiter immer „so reinlich und so zweifelsohne", bei Nordau strotzt das Quartier, in dem die Kommune das Licht der Welt erblickte, von Schmutz, den lediglich die Arbeiter, nicht die Bourgeois zu verantworten haben. Greulich verwahrlost ist das Familienleben in dieser Brutstätte des Volks¬ staates nach dem Herzen der Sozialisten. Die seltenste Ausnahme bildet die legitime Ehe. Mit der „Freundin" paart sich der „Arbeiter" in freier Liebe, bis er glaubt, daß es Zeit sei, ein anderes Verhältniß einzugehen. Viele Paare halten freilich anch Jahrzehnte nebeneinander aus, ohne jemals die Förmlichkeiten des Standesamtes oder gar der Kirche passirt zu haben. Jam¬ mervoll ist die Kindheit derer, die ans solcher Verbindung hervorgehen. Be- neidenswerth ist verhältnißmäßig noch das Schicksal der Kinder, die vom frühen Morgen bis zum Abend sich selbst überlassen, auf den Straßen sich herum¬ balgen, bleich, verhungert, von einer starrenden Schmutzfchichte überzogen, und des Abends ungerufen ihren Wohnungen zuschleichen, um vielleicht etwas zu essen zu bekommen. — Sie kennen doch wenigstens diejenigen, die sich ihre Eltern nennen und empfangen von ihnen in guten Stunden wohl auch ein Liebeswort. Aber neun Zehntel aller Arbeiterkinder von Belleville und Mont¬ martre werden von den unnatürlichen Eltern jenem Surrogat der Findelhäuser, der ^.ssisteureö xudlicMv übergeben, d. h. auf Kosten der Gemeinde großge¬ zogen! Wie es hier mit der Befriedigung der einfachsten Bedürfnisse der Kind¬ heit, mit der Sterblichkeit der armen kleinen Wesen bestellt ist, das lehrt jeder statistische Bericht der betreffenden Aemter. Der Verfasser wird sich ein Ver¬ dienst erwerben, wenn er die neuesten dieser Berichte eiuer zweiten Auflage seines Buches beifügen wird. Sie bieten eine schaurige Illustration zu den gemeinsamen Kinderstuben des Volksstaates der Zukunft! Wir sagten, es sei allein die Schuld der Eltern, nicht Unvermögen der¬ selben, die sie veranlaßt, die heiligsten Bande des Blutes und die Pflichten, die selbst das Thier bis zur letzten Kraft übt, so mit Füßen zu treten. Wir sind dem Verfasser besonders dankbar, daß er in dieser Hinsicht so reiches Material zur Beurtheilung bietet. Er hat einen großen Theil seiner Zeit in Paris in den Spitälern verbracht, deren größter Bestand sich allezeit aus diesen Kreisen rekrutirt, und er hat bei Hunderten und Tausenden erkundet, wie sie die Tage der Gesundheit und ihren Erwerb zu verwenden pflegten. Da ist denn sicher, daß Mann und Weib, die eine Arbeiterfamilie gründen, fast Alles Grenzboten II. 1L7L. !!4

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/269
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/269>, abgerufen am 01.09.2024.