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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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wilderung, welche das zweite Kaiserreich, neben wirklich Großem, das Frank¬
reich ihm nie vergessen sollte, in den zwei Jahrzehnten seines Bestehens, mit
Behagen im Volke anstiftete: in der geiht- und willentödtenden klerikalen Er¬
ziehung u, s. w. Der Verfasser selbst erkennt alle diese Mächte des Verderbens
an andern Stellen wohl und legt seinen Finger an die offenen Wunden. Wir
werden ihm darin folgen.

Von bemerkenswerther Originalität und Neuheit ist das Bild, das der
Verfasser uns uuter dem wenig entsprechenden Titel "Paris im Schlafrock"
aufrollt. Es ist das Bild der Stadt, die der Fremde nie zu sehen bekommt,
und in welcher doch der bei weitem größte Theil der Einwohner seine Tage,
mindestens seine Kindheit, hinbringen muß, die Rückseite jener glänzenden
Medaille der Boulevards, Plätze und Averner, die Seitenstraßen, in denen
der Pariser Kleinbürger sein Heim aufgeschlagen hat. Hier ist uns der for¬
schende Blick des praktischen Arztes besonders werthvoll. Hier sind die Straßen
eng und dumpf, ohne Luft und Licht; wie über Glasscherben oder Eisennägel
rasseln die Fuhrwerke mit höllische": Gerümpel über die spitzen Steine des
Pflasters. Nicht zwei Fußgänger können sich auf dem Trottoir ausweichen.
Der Boden ist zu jeder Jahreszeit kothig und feucht. Die Häuser thurmhoch,
schmal, nüchtern, schmucklos. Im Erdgeschoß niedrige Läden, an die sich rück¬
wärts ein dunkles, stickiges Gemach anschließt, das häufig den Ladenbesitzern
als Wohnung dient. In diesen arrivrc!8-l)ori.ticiri.Sö ist die Tuberkulose ende¬
misch. Der Hofraum im Innern der Häuser gleicht in seiner Enge einem
tiefen, feuchtem, finstern Brunnenschacht oder einem verrauchten Schlot, und
dennoch dient er, im ersten Stock mit einem Glasdach überwölbt, meist noch
als Werkstätte. Jedes Loch, "in das ein gut gehaltener Hund nicht bei mörde¬
rischen Hagelwetter kriechen würde, wird noch um einige Fünffrankenthaler an
einen bejammernswerthen Flickschuster vermiethet."") Das Haus zählt fünf
bis sieben Stockwerke und ist bis nnter den Dachfirst bewohnt; die obersten
Wohnungen haben die Fenster in der Decke. Die Treppen sind stets aus
Holz, übel beleuchtet, spiegelglatt und darum gefährlich. Die Wohnung des
Parisers in diesen Straßen ist ein Muster von Enge und Unbequemlichkeit.
Gewöhnlich haben die Mittelklassen über vier bis fünf Zimmer zu verfügen:
einen lichtlosen Vorsaal, einen stolzen "Salon" mit einem oder zwei Fenstern
nach der Straße, Marmorkcnnin, der natürlich unheizbar ist, und sonst aufs
Feinste ausgestattet; einen kleinen und meist dunkeln Speisesaal; zwei bis drei



*) Für den häßliche", dem Wohl und Weh Anderer beinahe unzugänglichen Egois¬
mus des Franzosen sind namentlich auch die französischen (und französisch-schweizerischen)
Pensionate, in welche deutsche Eltern ihre Kinder so gerne senden, meist ein klassisches
Beispiel.

wilderung, welche das zweite Kaiserreich, neben wirklich Großem, das Frank¬
reich ihm nie vergessen sollte, in den zwei Jahrzehnten seines Bestehens, mit
Behagen im Volke anstiftete: in der geiht- und willentödtenden klerikalen Er¬
ziehung u, s. w. Der Verfasser selbst erkennt alle diese Mächte des Verderbens
an andern Stellen wohl und legt seinen Finger an die offenen Wunden. Wir
werden ihm darin folgen.

Von bemerkenswerther Originalität und Neuheit ist das Bild, das der
Verfasser uns uuter dem wenig entsprechenden Titel „Paris im Schlafrock"
aufrollt. Es ist das Bild der Stadt, die der Fremde nie zu sehen bekommt,
und in welcher doch der bei weitem größte Theil der Einwohner seine Tage,
mindestens seine Kindheit, hinbringen muß, die Rückseite jener glänzenden
Medaille der Boulevards, Plätze und Averner, die Seitenstraßen, in denen
der Pariser Kleinbürger sein Heim aufgeschlagen hat. Hier ist uns der for¬
schende Blick des praktischen Arztes besonders werthvoll. Hier sind die Straßen
eng und dumpf, ohne Luft und Licht; wie über Glasscherben oder Eisennägel
rasseln die Fuhrwerke mit höllische»: Gerümpel über die spitzen Steine des
Pflasters. Nicht zwei Fußgänger können sich auf dem Trottoir ausweichen.
Der Boden ist zu jeder Jahreszeit kothig und feucht. Die Häuser thurmhoch,
schmal, nüchtern, schmucklos. Im Erdgeschoß niedrige Läden, an die sich rück¬
wärts ein dunkles, stickiges Gemach anschließt, das häufig den Ladenbesitzern
als Wohnung dient. In diesen arrivrc!8-l)ori.ticiri.Sö ist die Tuberkulose ende¬
misch. Der Hofraum im Innern der Häuser gleicht in seiner Enge einem
tiefen, feuchtem, finstern Brunnenschacht oder einem verrauchten Schlot, und
dennoch dient er, im ersten Stock mit einem Glasdach überwölbt, meist noch
als Werkstätte. Jedes Loch, „in das ein gut gehaltener Hund nicht bei mörde¬
rischen Hagelwetter kriechen würde, wird noch um einige Fünffrankenthaler an
einen bejammernswerthen Flickschuster vermiethet."") Das Haus zählt fünf
bis sieben Stockwerke und ist bis nnter den Dachfirst bewohnt; die obersten
Wohnungen haben die Fenster in der Decke. Die Treppen sind stets aus
Holz, übel beleuchtet, spiegelglatt und darum gefährlich. Die Wohnung des
Parisers in diesen Straßen ist ein Muster von Enge und Unbequemlichkeit.
Gewöhnlich haben die Mittelklassen über vier bis fünf Zimmer zu verfügen:
einen lichtlosen Vorsaal, einen stolzen „Salon" mit einem oder zwei Fenstern
nach der Straße, Marmorkcnnin, der natürlich unheizbar ist, und sonst aufs
Feinste ausgestattet; einen kleinen und meist dunkeln Speisesaal; zwei bis drei



*) Für den häßliche», dem Wohl und Weh Anderer beinahe unzugänglichen Egois¬
mus des Franzosen sind namentlich auch die französischen (und französisch-schweizerischen)
Pensionate, in welche deutsche Eltern ihre Kinder so gerne senden, meist ein klassisches
Beispiel.
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[0266] wilderung, welche das zweite Kaiserreich, neben wirklich Großem, das Frank¬ reich ihm nie vergessen sollte, in den zwei Jahrzehnten seines Bestehens, mit Behagen im Volke anstiftete: in der geiht- und willentödtenden klerikalen Er¬ ziehung u, s. w. Der Verfasser selbst erkennt alle diese Mächte des Verderbens an andern Stellen wohl und legt seinen Finger an die offenen Wunden. Wir werden ihm darin folgen. Von bemerkenswerther Originalität und Neuheit ist das Bild, das der Verfasser uns uuter dem wenig entsprechenden Titel „Paris im Schlafrock" aufrollt. Es ist das Bild der Stadt, die der Fremde nie zu sehen bekommt, und in welcher doch der bei weitem größte Theil der Einwohner seine Tage, mindestens seine Kindheit, hinbringen muß, die Rückseite jener glänzenden Medaille der Boulevards, Plätze und Averner, die Seitenstraßen, in denen der Pariser Kleinbürger sein Heim aufgeschlagen hat. Hier ist uns der for¬ schende Blick des praktischen Arztes besonders werthvoll. Hier sind die Straßen eng und dumpf, ohne Luft und Licht; wie über Glasscherben oder Eisennägel rasseln die Fuhrwerke mit höllische»: Gerümpel über die spitzen Steine des Pflasters. Nicht zwei Fußgänger können sich auf dem Trottoir ausweichen. Der Boden ist zu jeder Jahreszeit kothig und feucht. Die Häuser thurmhoch, schmal, nüchtern, schmucklos. Im Erdgeschoß niedrige Läden, an die sich rück¬ wärts ein dunkles, stickiges Gemach anschließt, das häufig den Ladenbesitzern als Wohnung dient. In diesen arrivrc!8-l)ori.ticiri.Sö ist die Tuberkulose ende¬ misch. Der Hofraum im Innern der Häuser gleicht in seiner Enge einem tiefen, feuchtem, finstern Brunnenschacht oder einem verrauchten Schlot, und dennoch dient er, im ersten Stock mit einem Glasdach überwölbt, meist noch als Werkstätte. Jedes Loch, „in das ein gut gehaltener Hund nicht bei mörde¬ rischen Hagelwetter kriechen würde, wird noch um einige Fünffrankenthaler an einen bejammernswerthen Flickschuster vermiethet."") Das Haus zählt fünf bis sieben Stockwerke und ist bis nnter den Dachfirst bewohnt; die obersten Wohnungen haben die Fenster in der Decke. Die Treppen sind stets aus Holz, übel beleuchtet, spiegelglatt und darum gefährlich. Die Wohnung des Parisers in diesen Straßen ist ein Muster von Enge und Unbequemlichkeit. Gewöhnlich haben die Mittelklassen über vier bis fünf Zimmer zu verfügen: einen lichtlosen Vorsaal, einen stolzen „Salon" mit einem oder zwei Fenstern nach der Straße, Marmorkcnnin, der natürlich unheizbar ist, und sonst aufs Feinste ausgestattet; einen kleinen und meist dunkeln Speisesaal; zwei bis drei *) Für den häßliche», dem Wohl und Weh Anderer beinahe unzugänglichen Egois¬ mus des Franzosen sind namentlich auch die französischen (und französisch-schweizerischen) Pensionate, in welche deutsche Eltern ihre Kinder so gerne senden, meist ein klassisches Beispiel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/266>, abgerufen am 27.07.2024.