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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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die begriffliche Darstellung dieses Spiegelbildes nur subjektive Bedeutung haben,
mag auch die Energie und Schärfe des Denkens, die zur Verfügung steht,
keine geringe sein.

So haben wir den Maßstab gewonnen, um die Philosophie Schopen¬
hauer's zu beurtheilen.

Es gehört, offen gesagt, für uns zu den Unbegreiflichkeiten, wie jemand,
der nicht durch individuelle Sympathien zu der Weltanschauung Schopenhauer's
hingezogen wird, durch seine Beweisführung für dieselbe gewonnen werden
kann. Es besitzt diese so wenig zwingende Gewalt, die Nöthe liegen so offen
da, die Widersprüche sind so handgreiflich, daß es unseres Bedünkens beson¬
derer individueller Vorbedingungen bedarf, um dies System, in dem die Er¬
kenntnißtheorie Kant's, eine Fichte nachgebildete Metaphysik, eine auf den
Wegen Schelling's gehende Naturphilosophie und die Ethik des Buddhismus
zusammengeschweißt sind, genießbar zu finden.

Fragen wir nun schon bei den Anhängern Schopenhauer's, was in aller
Welt treibt euch dazu, in diesem Irr- und Wirrgarten euch nieder zu lassen,
welcher Krankheitsstoff hat euer Urtheil getrübt, so liegt die andere Frage noch
näher: wie ist Schopenhauer dazu gekommen, diesen Irr- und Wirrgarten an¬
zulegen.

So weit ein Blick in das Leben Schopenhauer's diese Frage zu beant¬
worten gestattet, wollen wir es an der Hand der Biographie Gwinner's *) ver¬
suchen, diese Aufgabe zu losen.

Die geistige Eigenthümlichkeit des Einzelnen ist zum Theil wenigstens be¬
dingt durch den Typus der Familie, der er angehört. Das psychische Erbe,
das Schopenhauer antrat, war bedenklich und Besorgniß erregend. Unter
seinen Vorfahren väterlicher Seits waren geistige Störungen nichts seltenes.
Seine Großmutter war von so heftigem Charakter, daß sie zuletzt, nach ihres
Mannes Tode für wahnsinnig erklärt und unter Vormundschaft gesetzt wurde.
Ihr ältester Sohn war von Jugend auf geistesschwach, ihr zweiter Sohn
wurde in Folge von Ausschweifungen halb wahnsinnig, und auch der jüngste
Sohn, der Vater des Philosophen, blieb in seinem letzten Lebensjahr nicht frei
von Geistesstörungen.

Und unser Philosoph? Von Wahnsinn ist er allerdings frei geblieben.
Aber er stand immer an der Schwelle desselben. Er litt durch eine grenzen¬
lose Angst, die ihn bei den geringfügigsten Anlässen ergriff und ihn das



") Wilhelm Gwinner. Schopenhauer's Leben. Zweite umgearbeitete und vielfach ver¬
mehrte Auflage der Schrift: Arthur Schopenhauer aus persönlichem Umgange dargestellt.
Mit zwei Stahlstichen: Schopenhauer im 21. und 70. Lebensjahre. Leipzig, F. A. Brock¬
haus, 1873. 3. S. 636.

die begriffliche Darstellung dieses Spiegelbildes nur subjektive Bedeutung haben,
mag auch die Energie und Schärfe des Denkens, die zur Verfügung steht,
keine geringe sein.

So haben wir den Maßstab gewonnen, um die Philosophie Schopen¬
hauer's zu beurtheilen.

Es gehört, offen gesagt, für uns zu den Unbegreiflichkeiten, wie jemand,
der nicht durch individuelle Sympathien zu der Weltanschauung Schopenhauer's
hingezogen wird, durch seine Beweisführung für dieselbe gewonnen werden
kann. Es besitzt diese so wenig zwingende Gewalt, die Nöthe liegen so offen
da, die Widersprüche sind so handgreiflich, daß es unseres Bedünkens beson¬
derer individueller Vorbedingungen bedarf, um dies System, in dem die Er¬
kenntnißtheorie Kant's, eine Fichte nachgebildete Metaphysik, eine auf den
Wegen Schelling's gehende Naturphilosophie und die Ethik des Buddhismus
zusammengeschweißt sind, genießbar zu finden.

Fragen wir nun schon bei den Anhängern Schopenhauer's, was in aller
Welt treibt euch dazu, in diesem Irr- und Wirrgarten euch nieder zu lassen,
welcher Krankheitsstoff hat euer Urtheil getrübt, so liegt die andere Frage noch
näher: wie ist Schopenhauer dazu gekommen, diesen Irr- und Wirrgarten an¬
zulegen.

So weit ein Blick in das Leben Schopenhauer's diese Frage zu beant¬
worten gestattet, wollen wir es an der Hand der Biographie Gwinner's *) ver¬
suchen, diese Aufgabe zu losen.

Die geistige Eigenthümlichkeit des Einzelnen ist zum Theil wenigstens be¬
dingt durch den Typus der Familie, der er angehört. Das psychische Erbe,
das Schopenhauer antrat, war bedenklich und Besorgniß erregend. Unter
seinen Vorfahren väterlicher Seits waren geistige Störungen nichts seltenes.
Seine Großmutter war von so heftigem Charakter, daß sie zuletzt, nach ihres
Mannes Tode für wahnsinnig erklärt und unter Vormundschaft gesetzt wurde.
Ihr ältester Sohn war von Jugend auf geistesschwach, ihr zweiter Sohn
wurde in Folge von Ausschweifungen halb wahnsinnig, und auch der jüngste
Sohn, der Vater des Philosophen, blieb in seinem letzten Lebensjahr nicht frei
von Geistesstörungen.

Und unser Philosoph? Von Wahnsinn ist er allerdings frei geblieben.
Aber er stand immer an der Schwelle desselben. Er litt durch eine grenzen¬
lose Angst, die ihn bei den geringfügigsten Anlässen ergriff und ihn das



") Wilhelm Gwinner. Schopenhauer's Leben. Zweite umgearbeitete und vielfach ver¬
mehrte Auflage der Schrift: Arthur Schopenhauer aus persönlichem Umgange dargestellt.
Mit zwei Stahlstichen: Schopenhauer im 21. und 70. Lebensjahre. Leipzig, F. A. Brock¬
haus, 1873. 3. S. 636.
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[0206] die begriffliche Darstellung dieses Spiegelbildes nur subjektive Bedeutung haben, mag auch die Energie und Schärfe des Denkens, die zur Verfügung steht, keine geringe sein. So haben wir den Maßstab gewonnen, um die Philosophie Schopen¬ hauer's zu beurtheilen. Es gehört, offen gesagt, für uns zu den Unbegreiflichkeiten, wie jemand, der nicht durch individuelle Sympathien zu der Weltanschauung Schopenhauer's hingezogen wird, durch seine Beweisführung für dieselbe gewonnen werden kann. Es besitzt diese so wenig zwingende Gewalt, die Nöthe liegen so offen da, die Widersprüche sind so handgreiflich, daß es unseres Bedünkens beson¬ derer individueller Vorbedingungen bedarf, um dies System, in dem die Er¬ kenntnißtheorie Kant's, eine Fichte nachgebildete Metaphysik, eine auf den Wegen Schelling's gehende Naturphilosophie und die Ethik des Buddhismus zusammengeschweißt sind, genießbar zu finden. Fragen wir nun schon bei den Anhängern Schopenhauer's, was in aller Welt treibt euch dazu, in diesem Irr- und Wirrgarten euch nieder zu lassen, welcher Krankheitsstoff hat euer Urtheil getrübt, so liegt die andere Frage noch näher: wie ist Schopenhauer dazu gekommen, diesen Irr- und Wirrgarten an¬ zulegen. So weit ein Blick in das Leben Schopenhauer's diese Frage zu beant¬ worten gestattet, wollen wir es an der Hand der Biographie Gwinner's *) ver¬ suchen, diese Aufgabe zu losen. Die geistige Eigenthümlichkeit des Einzelnen ist zum Theil wenigstens be¬ dingt durch den Typus der Familie, der er angehört. Das psychische Erbe, das Schopenhauer antrat, war bedenklich und Besorgniß erregend. Unter seinen Vorfahren väterlicher Seits waren geistige Störungen nichts seltenes. Seine Großmutter war von so heftigem Charakter, daß sie zuletzt, nach ihres Mannes Tode für wahnsinnig erklärt und unter Vormundschaft gesetzt wurde. Ihr ältester Sohn war von Jugend auf geistesschwach, ihr zweiter Sohn wurde in Folge von Ausschweifungen halb wahnsinnig, und auch der jüngste Sohn, der Vater des Philosophen, blieb in seinem letzten Lebensjahr nicht frei von Geistesstörungen. Und unser Philosoph? Von Wahnsinn ist er allerdings frei geblieben. Aber er stand immer an der Schwelle desselben. Er litt durch eine grenzen¬ lose Angst, die ihn bei den geringfügigsten Anlässen ergriff und ihn das ") Wilhelm Gwinner. Schopenhauer's Leben. Zweite umgearbeitete und vielfach ver¬ mehrte Auflage der Schrift: Arthur Schopenhauer aus persönlichem Umgange dargestellt. Mit zwei Stahlstichen: Schopenhauer im 21. und 70. Lebensjahre. Leipzig, F. A. Brock¬ haus, 1873. 3. S. 636.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/206>, abgerufen am 01.09.2024.