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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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besitz angeeignet hat, den unterdrückten nichtdvrischen Massen gegenüber, und
der ganze Herrenstolz des dorischen Kriegers bricht durch in dem Skolion des
Kreters Hybrias, dem die Leibeignen zitternd das Knie umfassen, wie dem
Perserkönig, -- Auch diese Gemeinden sind wesentlich auf Ackerbau gegründet;
wir haben kaum nöthig, auf Sparta hinzuweisen, das nie etwas anderes war
als ein Gemeinwesen kriegerischer Grundbesitzer, und dessen Hauptstadt stets
ein großes Dorf blieb, oder auf Athen, das noch Solon durchaus als Agri¬
kulturstaat behandelte; aber anderwärts, vornehmlich in den ionischen Land¬
schaften, entwickelten sich allerdings bereits unter der Gunst einer unvergleichlich
herrlichen Lage rascher, als es in der entsprechenden Periode des Mittelalters
wenigstens in Deutschland geschehen ist, Handel und Gewerbe und beginnen
langsam die wirthschaftlichen Grundlagen umzugestalten. Freilich ist der Um¬
fang dieser Handelsbeziehungen noch gering; Phönikien und Aegypten liegen
in dämmernden Halbdunkel und behaglich kann die Phantasie des ionischen
Erzählers den fernen Westen mit Schrecknissen und Ungethümen erfüllen, ohne
daß seine andächtig lauschenden Zuhörer in ihrem schaudernden Entzücken über
Skylla und Polyphemos durch unbequeme geographische Kenntnisse gestört
würden.

Wenn nun im christlichen Mittelalter ans beiden Prämissen, aus der
aristokratischen Fügung der Gesellschaft und aus dem Vorwiege,: des Acker¬
baues, Schwäche der Regierung und geringer Zusammenhang der Nationen
folgte, fo tritt zwar die erstere Folge auf griechischem Boden um deswillen
weniger hervor, weil die räumlichen Verhältnisse ungleich enger, die Konzen¬
tration der Macht also viel leichter war, desto mehr aber das Zweite. Da
haben nun allerdings reichlich ebenso viel als die Stufe der wirthschaftlichen
Entwickelung die eigenartigen Verhältnisse des griechischen Bodens gewirkt,
dieses wunderbar individualisirten Landes, das, was sonst nirgends möglich
ist, den Welthandel von Korinth nur auf stundenweite von der Alpenwirth-
schaft des arkadischen Hochgebirges entfernt hielt. Unendlich ist die Zahl der
Landschaften und Gemeinden, in Recht und Sitte, in Sprache und Religion
eine tausendfache Verschiedenheit; der Jndividualisirnngstrieb durchdringt das
ganze nationale Leben bis in die einzelnste Einzelheit, bis in den Kalender
und das Alphabet hinein, Man mag billig bezweifeln, ob in dieser Zeit ein
griechischer V olks charakter und ein wenn auch nur dunkles Bewußtsein der
gemeinsamen Nationalität schon existirt habe; kennt ja Homer noch nicht einmal
den Ausdruck /S"^/?K^o?, fremd, sondern nur die Bezeichnung /5"^>/?"^>"9)w^os,
fremdartig redend, und jeder gemeinsame nationale Name fehlt. Auch dem
Griechen jener Zeit ist deshalb nicht nur der einem andern Stamme Ange¬
hörige, einen andern Dialekt Redende ein Fremder, Schutzloser; nicht anders


besitz angeeignet hat, den unterdrückten nichtdvrischen Massen gegenüber, und
der ganze Herrenstolz des dorischen Kriegers bricht durch in dem Skolion des
Kreters Hybrias, dem die Leibeignen zitternd das Knie umfassen, wie dem
Perserkönig, — Auch diese Gemeinden sind wesentlich auf Ackerbau gegründet;
wir haben kaum nöthig, auf Sparta hinzuweisen, das nie etwas anderes war
als ein Gemeinwesen kriegerischer Grundbesitzer, und dessen Hauptstadt stets
ein großes Dorf blieb, oder auf Athen, das noch Solon durchaus als Agri¬
kulturstaat behandelte; aber anderwärts, vornehmlich in den ionischen Land¬
schaften, entwickelten sich allerdings bereits unter der Gunst einer unvergleichlich
herrlichen Lage rascher, als es in der entsprechenden Periode des Mittelalters
wenigstens in Deutschland geschehen ist, Handel und Gewerbe und beginnen
langsam die wirthschaftlichen Grundlagen umzugestalten. Freilich ist der Um¬
fang dieser Handelsbeziehungen noch gering; Phönikien und Aegypten liegen
in dämmernden Halbdunkel und behaglich kann die Phantasie des ionischen
Erzählers den fernen Westen mit Schrecknissen und Ungethümen erfüllen, ohne
daß seine andächtig lauschenden Zuhörer in ihrem schaudernden Entzücken über
Skylla und Polyphemos durch unbequeme geographische Kenntnisse gestört
würden.

Wenn nun im christlichen Mittelalter ans beiden Prämissen, aus der
aristokratischen Fügung der Gesellschaft und aus dem Vorwiege,: des Acker¬
baues, Schwäche der Regierung und geringer Zusammenhang der Nationen
folgte, fo tritt zwar die erstere Folge auf griechischem Boden um deswillen
weniger hervor, weil die räumlichen Verhältnisse ungleich enger, die Konzen¬
tration der Macht also viel leichter war, desto mehr aber das Zweite. Da
haben nun allerdings reichlich ebenso viel als die Stufe der wirthschaftlichen
Entwickelung die eigenartigen Verhältnisse des griechischen Bodens gewirkt,
dieses wunderbar individualisirten Landes, das, was sonst nirgends möglich
ist, den Welthandel von Korinth nur auf stundenweite von der Alpenwirth-
schaft des arkadischen Hochgebirges entfernt hielt. Unendlich ist die Zahl der
Landschaften und Gemeinden, in Recht und Sitte, in Sprache und Religion
eine tausendfache Verschiedenheit; der Jndividualisirnngstrieb durchdringt das
ganze nationale Leben bis in die einzelnste Einzelheit, bis in den Kalender
und das Alphabet hinein, Man mag billig bezweifeln, ob in dieser Zeit ein
griechischer V olks charakter und ein wenn auch nur dunkles Bewußtsein der
gemeinsamen Nationalität schon existirt habe; kennt ja Homer noch nicht einmal
den Ausdruck /S«^/?K^o?, fremd, sondern nur die Bezeichnung /5«^>/?«^>»9)w^os,
fremdartig redend, und jeder gemeinsame nationale Name fehlt. Auch dem
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/132>, abgerufen am 01.09.2024.