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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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oberuug der kleinasiatischen Westküste durch buntgemischte Kvlvnistenschaaren
auf der andern.

Auch in der deutschen Geschichte tritt diese "Wanderzeit" in breiter Ent¬
faltung durch drei Jahrhunderte hindurch von der Mitte des 3. bis zur Mitte
des 6. Jahrhunderts auf. Gewaltiger freilich sind die Ereignisse, größer die
Massen der wandernden Stämme, und nnr eine geringe Analogie findet der
Zusammenstoß der Germanen mit der römischen Kulturwelt in der Berührung
der auswandernden Griechen mit den Völkern Klein-Asiens, die ebenso z. Th.
eine ältere Kultur besaßen, als jene. Aber das sind in der That nur Aeußer-
lichkeiten.

Unter dein Einflusse der immer stärkeren Berührung mit Rom, wie der
einzelnen Stämme untereinander entwickelt sich auch bei den Deutschen, weil
die Konzentration der Kraft erfordert wird, das Königthum. Die kleinen
Stämme der Urzeit verschwinden, machen mächtigen Zusnmmenballungen Platz:
aus Sigambern und Bruktereru werden die Franken, aus zahlreichen kleinen
suebischen Stämmen die Alemannen. Noch bilden die Kraft des Volkes und
die Stärke des Heeres die dichten Massen freier Bauern, aber über sie erhebt
sich bereits das Gefolge des Fürsten, in hohem Saale mit ihm hausend. Nur
der gilt als ein Mann, der ein Krieger ist; unaufhörlich drängt die wachsende
Volkskraft des Stammes nach Ausbreitung der Wohnsitze, die Kriegslust des
Gefolges nach Ehre und Goldschatz, Es ist ein rauhes Geschlecht, wie es die
wilde Zeit verlangt; ueben auheüuelnden, oft rührenden Zügen felsenfester
Treue und innigen Empfindens stehn furchtbare Härte und unbändige Leiden¬
schaft; neben Kriemhilds hingebender Liebe Hagens unmenschlicher Trotz und
derselben Kriemhild unpersönliche Rache. So waren die Helden, deren Ansturme
kein Römerheer stand, und die doch dem heimatlichen Boden entrissen der
überlegenen Kultur der Besiegten in wenigen Jahrzehnten erlagen. Erst als
sie auf den Trümmern des römischen Reichs ihre Staaten gegründet, als die
Verschmelzung der rauhen Söhne des Nordens mit den zivilisirteu Südländern
angebahnt war, erst da kam das Treiben und Drängen der Völker zur Ruhe.

Vom Ende der Wanderzeit bis zum Ende unseres Mittelalters lassen sich
zwei Perioden der Entwicklung deutlich unterscheiden, deren Wende der Beginn
der Kreuzzüge bildet. Auf den Grundlagen, welche in der ersten gelegt und
befestigt worden, vollziehen sich in der zweiten Umgestaltungen, die schon zur
modernen Zeit hinüberleiten. Zwei Wurzeln sind es wesentlich, aus dem das
mittelalterliche Volksleben erwachsen ist: die aristokratische Fügung der Gesell¬
schaft in staatlich-rechtlicher, das Uebergewicht des Ackerbaus und der Natural¬
wirtschaft in wirtschaftlicher Beziehung. Schon in den Gefolgschaften der
Wanderzeit vorgebildet hat sich diese aristokratische Gestaltung durch Krieg


oberuug der kleinasiatischen Westküste durch buntgemischte Kvlvnistenschaaren
auf der andern.

Auch in der deutschen Geschichte tritt diese „Wanderzeit" in breiter Ent¬
faltung durch drei Jahrhunderte hindurch von der Mitte des 3. bis zur Mitte
des 6. Jahrhunderts auf. Gewaltiger freilich sind die Ereignisse, größer die
Massen der wandernden Stämme, und nnr eine geringe Analogie findet der
Zusammenstoß der Germanen mit der römischen Kulturwelt in der Berührung
der auswandernden Griechen mit den Völkern Klein-Asiens, die ebenso z. Th.
eine ältere Kultur besaßen, als jene. Aber das sind in der That nur Aeußer-
lichkeiten.

Unter dein Einflusse der immer stärkeren Berührung mit Rom, wie der
einzelnen Stämme untereinander entwickelt sich auch bei den Deutschen, weil
die Konzentration der Kraft erfordert wird, das Königthum. Die kleinen
Stämme der Urzeit verschwinden, machen mächtigen Zusnmmenballungen Platz:
aus Sigambern und Bruktereru werden die Franken, aus zahlreichen kleinen
suebischen Stämmen die Alemannen. Noch bilden die Kraft des Volkes und
die Stärke des Heeres die dichten Massen freier Bauern, aber über sie erhebt
sich bereits das Gefolge des Fürsten, in hohem Saale mit ihm hausend. Nur
der gilt als ein Mann, der ein Krieger ist; unaufhörlich drängt die wachsende
Volkskraft des Stammes nach Ausbreitung der Wohnsitze, die Kriegslust des
Gefolges nach Ehre und Goldschatz, Es ist ein rauhes Geschlecht, wie es die
wilde Zeit verlangt; ueben auheüuelnden, oft rührenden Zügen felsenfester
Treue und innigen Empfindens stehn furchtbare Härte und unbändige Leiden¬
schaft; neben Kriemhilds hingebender Liebe Hagens unmenschlicher Trotz und
derselben Kriemhild unpersönliche Rache. So waren die Helden, deren Ansturme
kein Römerheer stand, und die doch dem heimatlichen Boden entrissen der
überlegenen Kultur der Besiegten in wenigen Jahrzehnten erlagen. Erst als
sie auf den Trümmern des römischen Reichs ihre Staaten gegründet, als die
Verschmelzung der rauhen Söhne des Nordens mit den zivilisirteu Südländern
angebahnt war, erst da kam das Treiben und Drängen der Völker zur Ruhe.

Vom Ende der Wanderzeit bis zum Ende unseres Mittelalters lassen sich
zwei Perioden der Entwicklung deutlich unterscheiden, deren Wende der Beginn
der Kreuzzüge bildet. Auf den Grundlagen, welche in der ersten gelegt und
befestigt worden, vollziehen sich in der zweiten Umgestaltungen, die schon zur
modernen Zeit hinüberleiten. Zwei Wurzeln sind es wesentlich, aus dem das
mittelalterliche Volksleben erwachsen ist: die aristokratische Fügung der Gesell¬
schaft in staatlich-rechtlicher, das Uebergewicht des Ackerbaus und der Natural¬
wirtschaft in wirtschaftlicher Beziehung. Schon in den Gefolgschaften der
Wanderzeit vorgebildet hat sich diese aristokratische Gestaltung durch Krieg


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[0129] oberuug der kleinasiatischen Westküste durch buntgemischte Kvlvnistenschaaren auf der andern. Auch in der deutschen Geschichte tritt diese „Wanderzeit" in breiter Ent¬ faltung durch drei Jahrhunderte hindurch von der Mitte des 3. bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts auf. Gewaltiger freilich sind die Ereignisse, größer die Massen der wandernden Stämme, und nnr eine geringe Analogie findet der Zusammenstoß der Germanen mit der römischen Kulturwelt in der Berührung der auswandernden Griechen mit den Völkern Klein-Asiens, die ebenso z. Th. eine ältere Kultur besaßen, als jene. Aber das sind in der That nur Aeußer- lichkeiten. Unter dein Einflusse der immer stärkeren Berührung mit Rom, wie der einzelnen Stämme untereinander entwickelt sich auch bei den Deutschen, weil die Konzentration der Kraft erfordert wird, das Königthum. Die kleinen Stämme der Urzeit verschwinden, machen mächtigen Zusnmmenballungen Platz: aus Sigambern und Bruktereru werden die Franken, aus zahlreichen kleinen suebischen Stämmen die Alemannen. Noch bilden die Kraft des Volkes und die Stärke des Heeres die dichten Massen freier Bauern, aber über sie erhebt sich bereits das Gefolge des Fürsten, in hohem Saale mit ihm hausend. Nur der gilt als ein Mann, der ein Krieger ist; unaufhörlich drängt die wachsende Volkskraft des Stammes nach Ausbreitung der Wohnsitze, die Kriegslust des Gefolges nach Ehre und Goldschatz, Es ist ein rauhes Geschlecht, wie es die wilde Zeit verlangt; ueben auheüuelnden, oft rührenden Zügen felsenfester Treue und innigen Empfindens stehn furchtbare Härte und unbändige Leiden¬ schaft; neben Kriemhilds hingebender Liebe Hagens unmenschlicher Trotz und derselben Kriemhild unpersönliche Rache. So waren die Helden, deren Ansturme kein Römerheer stand, und die doch dem heimatlichen Boden entrissen der überlegenen Kultur der Besiegten in wenigen Jahrzehnten erlagen. Erst als sie auf den Trümmern des römischen Reichs ihre Staaten gegründet, als die Verschmelzung der rauhen Söhne des Nordens mit den zivilisirteu Südländern angebahnt war, erst da kam das Treiben und Drängen der Völker zur Ruhe. Vom Ende der Wanderzeit bis zum Ende unseres Mittelalters lassen sich zwei Perioden der Entwicklung deutlich unterscheiden, deren Wende der Beginn der Kreuzzüge bildet. Auf den Grundlagen, welche in der ersten gelegt und befestigt worden, vollziehen sich in der zweiten Umgestaltungen, die schon zur modernen Zeit hinüberleiten. Zwei Wurzeln sind es wesentlich, aus dem das mittelalterliche Volksleben erwachsen ist: die aristokratische Fügung der Gesell¬ schaft in staatlich-rechtlicher, das Uebergewicht des Ackerbaus und der Natural¬ wirtschaft in wirtschaftlicher Beziehung. Schon in den Gefolgschaften der Wanderzeit vorgebildet hat sich diese aristokratische Gestaltung durch Krieg

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/129>, abgerufen am 01.09.2024.