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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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nur ein solcher thun kann! Aber wenn ein Andrer sagt: es ist nur ein Gott
und ich bin sein Prophet, d. h. ich bin derjenige, der sich bestimmt zu sein
fühlt, seine Einheit gegen euch, die ihr ihn verkennt, zu retten: was sind da
für Wunder nöthig? Wir schenken euch gern diese übernatürlichen--- ich
weiß nicht, wie ich sie nennen soll -- wir schenken sie euch und danken es
unserm Lehrer, daß er seine gute Sache nicht dadurch hat verdächtig machen
wollen." -- Natürlich spricht das nur der Mohamedaner, nicht Lessing!

Die veränderte religiöse Stimmung verlangte auch eiuen veränderten Aus¬
druck. Im Kirchenlied war das vorige Jahrhundert von einer unendlichen
Produktivität gewesen; man fand jetzt, daß es aus einer Frömmigkeit hervor¬
gegangen war, die aufgehört hatte zu leben. Das Gefühl der Zeit konnte
mit der Bluttheologie der Pietisten und den verliebten Spielereien der Herrn-
huter nicht mehr auskommen.

"Wir sind oft mitten in unsrer Andacht durch Gedanken und Ausdrücke
unterbrochen worden, die nichts weniger als der Religion und selbst derjenigen
Vorstellungen würdig waren, welche diese Lieder in ihren besten Stellen in
uns hervorgebracht hatten."

Okt. 1755 verschickte Gelle re (40 I.) an seine Freunde seine ersten geist-
lichen Lieder, das Populärste, was er nach den Fabeln geschrieben hat. Er
hatte sich immer erbaulicher gestimmt. In seinen moralischen Vorlesungen
suchte er hauptsächlich auf den gemeinen Mann zu wirken; seine Tugend wan¬
delte auf der Heerstraße. Auch im gewöhnlichen Gespräch war er erbaulich.
Sein eingefallenes, gutmüthiges Gesicht, seine hohle, etwas weinerliche Stimme
erweckte Rührung. Arme Soldaten, Holzhändler machten ihm Geschenke, weil
fie sich durch seine Schriften gebessert fühlten. "Der freudige Schreck, daß ich
nicht unnütz wäre, that eine mächtige Wirkung auf mein Herz."

Mitunter sehen Gellert's Lieder freilich wie die reine Prosa aus, von
den kühnen Zügen des altprotestantischen Kirchenliedes ist nichts geblieben.
Aber es war die richtige Art, den alten Inhalt des Pietismus, das Gefühl
von der Erbärmlichkeit alles Irdischen, ins Erbauliche überzuleiten, in die
Freude am Geschäft, Seelen zu retten in diesem und jenem Leben. Gellert
hat so manche Seele gerettet und so manche Freudenthräne darüber vergossen,
seine Moralität hatte nur den einen Fehler, zu viel vor dem Spiegel zu stehn
und mitunter recht gewöhnliche Züge für etwas besondres zu halten.

Ihn selbst stärkte sein Beruf nicht; seine Aufzeichnungen erinnern zuweilen
W das Tagebuch Hallers: "Ich kränke mich mehr darüber, daß ich so un¬
empfindlich bin, das Glück, das ich habe, zu erkennen und zu fühlen, als ich
über das, was mir mangelt, betrübt bin. Wo kommt diese Kälte, diese un¬
dankbare Härte her? Ich stehe mit der Trägheit auf, mit der ich mich nieder-


nur ein solcher thun kann! Aber wenn ein Andrer sagt: es ist nur ein Gott
und ich bin sein Prophet, d. h. ich bin derjenige, der sich bestimmt zu sein
fühlt, seine Einheit gegen euch, die ihr ihn verkennt, zu retten: was sind da
für Wunder nöthig? Wir schenken euch gern diese übernatürlichen--- ich
weiß nicht, wie ich sie nennen soll — wir schenken sie euch und danken es
unserm Lehrer, daß er seine gute Sache nicht dadurch hat verdächtig machen
wollen." — Natürlich spricht das nur der Mohamedaner, nicht Lessing!

Die veränderte religiöse Stimmung verlangte auch eiuen veränderten Aus¬
druck. Im Kirchenlied war das vorige Jahrhundert von einer unendlichen
Produktivität gewesen; man fand jetzt, daß es aus einer Frömmigkeit hervor¬
gegangen war, die aufgehört hatte zu leben. Das Gefühl der Zeit konnte
mit der Bluttheologie der Pietisten und den verliebten Spielereien der Herrn-
huter nicht mehr auskommen.

„Wir sind oft mitten in unsrer Andacht durch Gedanken und Ausdrücke
unterbrochen worden, die nichts weniger als der Religion und selbst derjenigen
Vorstellungen würdig waren, welche diese Lieder in ihren besten Stellen in
uns hervorgebracht hatten."

Okt. 1755 verschickte Gelle re (40 I.) an seine Freunde seine ersten geist-
lichen Lieder, das Populärste, was er nach den Fabeln geschrieben hat. Er
hatte sich immer erbaulicher gestimmt. In seinen moralischen Vorlesungen
suchte er hauptsächlich auf den gemeinen Mann zu wirken; seine Tugend wan¬
delte auf der Heerstraße. Auch im gewöhnlichen Gespräch war er erbaulich.
Sein eingefallenes, gutmüthiges Gesicht, seine hohle, etwas weinerliche Stimme
erweckte Rührung. Arme Soldaten, Holzhändler machten ihm Geschenke, weil
fie sich durch seine Schriften gebessert fühlten. „Der freudige Schreck, daß ich
nicht unnütz wäre, that eine mächtige Wirkung auf mein Herz."

Mitunter sehen Gellert's Lieder freilich wie die reine Prosa aus, von
den kühnen Zügen des altprotestantischen Kirchenliedes ist nichts geblieben.
Aber es war die richtige Art, den alten Inhalt des Pietismus, das Gefühl
von der Erbärmlichkeit alles Irdischen, ins Erbauliche überzuleiten, in die
Freude am Geschäft, Seelen zu retten in diesem und jenem Leben. Gellert
hat so manche Seele gerettet und so manche Freudenthräne darüber vergossen,
seine Moralität hatte nur den einen Fehler, zu viel vor dem Spiegel zu stehn
und mitunter recht gewöhnliche Züge für etwas besondres zu halten.

Ihn selbst stärkte sein Beruf nicht; seine Aufzeichnungen erinnern zuweilen
W das Tagebuch Hallers: „Ich kränke mich mehr darüber, daß ich so un¬
empfindlich bin, das Glück, das ich habe, zu erkennen und zu fühlen, als ich
über das, was mir mangelt, betrübt bin. Wo kommt diese Kälte, diese un¬
dankbare Härte her? Ich stehe mit der Trägheit auf, mit der ich mich nieder-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/105>, abgerufen am 27.07.2024.