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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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vaterländischen Zwecke dar, die der Patriot Nievo durch seine Romandichtungen
verfolgte. So sehr daher auch eiuzelue Szenen, in denen sich die Verderbtheit
oder doch sittliche Gleichgültigkeit jener Tage besonders lebhaft ausprägt, mit
diesen idealen Zwecken scheinbar in Gegensatz stehen, so heben doch auch sie
gerade durch den historisch treu gezeichneten Schatten des Bildes das Licht des
patriotischen Ideals künftiger Tage um so glänzender hervor.

Die Exposition der Sittenschilderung Venedigs, mit der das "Engelsherz"
beginnt, ist geradezu meisterhaft. Das erste Kapitel des Romans führt uns
zu einem Empfangsabend des Klosters der Seraphinerinnen. In diesen heiligen
Mauern herrscht die frivolste Weltlust, die denkbar ist. Ungescheut werden inmitten
einer großen feinen Gesellschaft einzelne Nonnen an Beziehungen erinnert, die mit
den Klosterregeln schlechterdings unvereinbar sind. Das ganze heilige Haus er¬
scheint als ein pseudvnymer Heirathstempel für seine Zöglinge aus den besten
Famlien Venedigs. Nachdem wir das im Kloster erlebt haben, befremdet uns
später nichts mehr, was wir draußen in der ungeheiligten Gesellschaft des
alten Venedig mit ansehen. Ein zweiter meisterhafter Zug dieser Exposition
ist der, daß alle Charaktere, welche im Roman eine bedeutende Rolle spielen,
in ihrer vollen Eigenthümlichkeit, gleichsam im Grundriß, hier schon gezeichnet
sind, Wohlwollen und Abneigung des Lesers für alle Mitwirkenden schon
von diesen ersten Seiten an dahin gelenkt ist, wohin der Dichter sie zu lenken
wünscht.

Den köstlichsten Gegensatz zu diesem Treiben der leichtlebigen Stadt, in
das wir gleich zu Anfang eingeführt werden, bildet das zweite Kapitel, das
uns das Jugendleben der Helden des Romans im unschuldigen Frieden des
Landlebens darstellt, vor Allem den Entwicklungsgang Morosina's. Wieder
den denkbar schärfsten und von künstlerischem Standpunkte aus trefflich dar¬
gestellten Kontrast bietet das dritte Kapitel, in dem wir Morosiua scheiden sehen
aus dem Kloster, mit einem Herzen und einem Gemüth, das Alles, was
dort Schein ist, für Wahrheit nimmt, Alles, was dort sein sollte, als wirk¬
lich vorhanden ansieht. Sie soll auf den Wunsch ihres Vaters nun -- als
Gast einziehen in das Haus Sr. Excellenz des Herrn Inquisitors Formiani,
in das bisher junge Mädchen nur Eingang fanden, um vorübergehend ein glän¬
zendes Elend kennen zu lernen. Wir ahnen, daß die Größe dieses Engels¬
herzens alle Prüfungen bestehen werde, und wir täuschen uns nicht. Die
Blicke, die uns der Dichter dabei in die Tiefen der damaligen guten Gesell¬
schaft und des geknechteten Volkes eröffnet, zugleich in die geheimsten Tiefen
des ewig gleichbleibenden menschlichen Herzens, zeugen von genialer Klarheit.
Daß ein Dreiundzwanzigjähriger das entwerfen, schreiben und darstellen konnte,
ist das beste Lob, das der frühen Reife Niero's gezollt werden kann.


Grenzboten 1873. I, 59

vaterländischen Zwecke dar, die der Patriot Nievo durch seine Romandichtungen
verfolgte. So sehr daher auch eiuzelue Szenen, in denen sich die Verderbtheit
oder doch sittliche Gleichgültigkeit jener Tage besonders lebhaft ausprägt, mit
diesen idealen Zwecken scheinbar in Gegensatz stehen, so heben doch auch sie
gerade durch den historisch treu gezeichneten Schatten des Bildes das Licht des
patriotischen Ideals künftiger Tage um so glänzender hervor.

Die Exposition der Sittenschilderung Venedigs, mit der das „Engelsherz"
beginnt, ist geradezu meisterhaft. Das erste Kapitel des Romans führt uns
zu einem Empfangsabend des Klosters der Seraphinerinnen. In diesen heiligen
Mauern herrscht die frivolste Weltlust, die denkbar ist. Ungescheut werden inmitten
einer großen feinen Gesellschaft einzelne Nonnen an Beziehungen erinnert, die mit
den Klosterregeln schlechterdings unvereinbar sind. Das ganze heilige Haus er¬
scheint als ein pseudvnymer Heirathstempel für seine Zöglinge aus den besten
Famlien Venedigs. Nachdem wir das im Kloster erlebt haben, befremdet uns
später nichts mehr, was wir draußen in der ungeheiligten Gesellschaft des
alten Venedig mit ansehen. Ein zweiter meisterhafter Zug dieser Exposition
ist der, daß alle Charaktere, welche im Roman eine bedeutende Rolle spielen,
in ihrer vollen Eigenthümlichkeit, gleichsam im Grundriß, hier schon gezeichnet
sind, Wohlwollen und Abneigung des Lesers für alle Mitwirkenden schon
von diesen ersten Seiten an dahin gelenkt ist, wohin der Dichter sie zu lenken
wünscht.

Den köstlichsten Gegensatz zu diesem Treiben der leichtlebigen Stadt, in
das wir gleich zu Anfang eingeführt werden, bildet das zweite Kapitel, das
uns das Jugendleben der Helden des Romans im unschuldigen Frieden des
Landlebens darstellt, vor Allem den Entwicklungsgang Morosina's. Wieder
den denkbar schärfsten und von künstlerischem Standpunkte aus trefflich dar¬
gestellten Kontrast bietet das dritte Kapitel, in dem wir Morosiua scheiden sehen
aus dem Kloster, mit einem Herzen und einem Gemüth, das Alles, was
dort Schein ist, für Wahrheit nimmt, Alles, was dort sein sollte, als wirk¬
lich vorhanden ansieht. Sie soll auf den Wunsch ihres Vaters nun — als
Gast einziehen in das Haus Sr. Excellenz des Herrn Inquisitors Formiani,
in das bisher junge Mädchen nur Eingang fanden, um vorübergehend ein glän¬
zendes Elend kennen zu lernen. Wir ahnen, daß die Größe dieses Engels¬
herzens alle Prüfungen bestehen werde, und wir täuschen uns nicht. Die
Blicke, die uns der Dichter dabei in die Tiefen der damaligen guten Gesell¬
schaft und des geknechteten Volkes eröffnet, zugleich in die geheimsten Tiefen
des ewig gleichbleibenden menschlichen Herzens, zeugen von genialer Klarheit.
Daß ein Dreiundzwanzigjähriger das entwerfen, schreiben und darstellen konnte,
ist das beste Lob, das der frühen Reife Niero's gezollt werden kann.


Grenzboten 1873. I, 59
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/473>, abgerufen am 27.09.2024.