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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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für Pommern: "In allen Industriezweigen ist man sehr geneigt, gerade diese
Bestimmungen zu umgehen, und es sind viele Mittel und Wege ausgedacht,
um die Aufsichtsbehörde zu täuschen. Sobald man die Fabrik betreten hat
und bemerkt und erkannt worden ist, so ist in der Regel kurze Zeit darauf
das ganze Arbeitspersonal von der Anwesenheit des Fabrikinspektors in Kennt¬
niß gesetzt, um alles Ungesetzliche bei etwaiger Annäherung so schnell als
thunlich zu beseitigen. Ein beliebtes Manöver ist es z. B. Kinder zu verstecken
und man pflegt dann in der Wahl des Verstecks durchaus nicht wählerisch zu
sein; man läßt wohl auch Kinder einen Korb in die Hand nehmen und sendet
sie weg, gleichsam als haben dieselben Essen gebracht u. s. w." Wenn der
pflichttreue Beamte dann hinzufügt: "Gott sei Dank ist aber diese Altersklasse
von Kindern noch nicht so taktfest im Lügen, daß man nicht durch einige scharf
gestellte Fragen die Wahrheit zu hören bekommt," so muß jedem patriotischen
Manne die Schamröthe in die Wangen steigen. Solche Erscheinungen sind
auch durchaus nicht vereinzelt; Nachtarbeit der Kinder zeigt sich in manchen
Distrikten als eingewurzelte Gewohnheit, ebenso gänzliche Vernachlässigung des
Schulunterrichts und noch Schlimmeres kommt vor; Dr. Wolff, der Fabrik¬
inspektor für den Regierungsbezirk Düsseldorf, konstatirt u. A. einen schändlichen
Fall, in welchem ein noch nicht sechszehnjähriger Knabe nicht nur regelmäßig den
Tag- und Nachtwechsel der Schichten eingereiht, sondern auch in geradezu
ungeheuerlicher Ausbeutung seiner Arbeitskraft 22^ Stunden lang ohne
andere, als die usuellen Unterbrechungen, in einem Walzwerke beschäftigt worden
ist. Das Ende war ein Unfall, welcher die Amputation eines Beines noth¬
wendig machte. Auf Veranlassung der Regierung wurde in der Untersuchung
gegen den schuldigen Fabrikanten das höchste, gesetzlich zulässige Strafmaß be¬
antragt. Es beträgt -- dreißig Mark! Glücklicherweise soll solchen schreienden
Mißverhältnissen ein Ende gemacht werden durch die neuen Novellen zur Ge¬
werbeordnung, welche erheblich höhere Strafbestimmungen enthalten.

Theils dnrch Güte, theils dnrch Veranlassung von Strafen haben die Fabrik¬
inspektoren auf diesem Gebiete Vieles, aber noch lange nicht Alles gebessert. In
Fabrikantenkreisen heißt es nach wie vor, daß Kinderarbeit in weiterem Umfange,
als das Gesetz gestatte, unentbehrlich sei, theils aus technischen Gründen, theils
aus Rücksicht auf die.internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie.
Das erste Moment trifft nicht halb zu; unentbehrlich ist die Kinderarbeit in keinem,
schwer ersetzbar in ganz wenigen Zweigen der Fabrikindustrie, wie etwa in der
Glasfabrikation. Wichtiger ist das zweite Moment, aber auch hier wird sehr
übertriebe!?. schlagend wird die ganze Argumentation durch die Thatfache
illustrirt, daß überall, wo die Fabrikinspektoren ans strenge Jnnehaltung der
gesetzlichen Bestimmungen achten, die Zahl der beschäftigten Kinder rapide ab-


für Pommern: „In allen Industriezweigen ist man sehr geneigt, gerade diese
Bestimmungen zu umgehen, und es sind viele Mittel und Wege ausgedacht,
um die Aufsichtsbehörde zu täuschen. Sobald man die Fabrik betreten hat
und bemerkt und erkannt worden ist, so ist in der Regel kurze Zeit darauf
das ganze Arbeitspersonal von der Anwesenheit des Fabrikinspektors in Kennt¬
niß gesetzt, um alles Ungesetzliche bei etwaiger Annäherung so schnell als
thunlich zu beseitigen. Ein beliebtes Manöver ist es z. B. Kinder zu verstecken
und man pflegt dann in der Wahl des Verstecks durchaus nicht wählerisch zu
sein; man läßt wohl auch Kinder einen Korb in die Hand nehmen und sendet
sie weg, gleichsam als haben dieselben Essen gebracht u. s. w." Wenn der
pflichttreue Beamte dann hinzufügt: „Gott sei Dank ist aber diese Altersklasse
von Kindern noch nicht so taktfest im Lügen, daß man nicht durch einige scharf
gestellte Fragen die Wahrheit zu hören bekommt," so muß jedem patriotischen
Manne die Schamröthe in die Wangen steigen. Solche Erscheinungen sind
auch durchaus nicht vereinzelt; Nachtarbeit der Kinder zeigt sich in manchen
Distrikten als eingewurzelte Gewohnheit, ebenso gänzliche Vernachlässigung des
Schulunterrichts und noch Schlimmeres kommt vor; Dr. Wolff, der Fabrik¬
inspektor für den Regierungsbezirk Düsseldorf, konstatirt u. A. einen schändlichen
Fall, in welchem ein noch nicht sechszehnjähriger Knabe nicht nur regelmäßig den
Tag- und Nachtwechsel der Schichten eingereiht, sondern auch in geradezu
ungeheuerlicher Ausbeutung seiner Arbeitskraft 22^ Stunden lang ohne
andere, als die usuellen Unterbrechungen, in einem Walzwerke beschäftigt worden
ist. Das Ende war ein Unfall, welcher die Amputation eines Beines noth¬
wendig machte. Auf Veranlassung der Regierung wurde in der Untersuchung
gegen den schuldigen Fabrikanten das höchste, gesetzlich zulässige Strafmaß be¬
antragt. Es beträgt — dreißig Mark! Glücklicherweise soll solchen schreienden
Mißverhältnissen ein Ende gemacht werden durch die neuen Novellen zur Ge¬
werbeordnung, welche erheblich höhere Strafbestimmungen enthalten.

Theils dnrch Güte, theils dnrch Veranlassung von Strafen haben die Fabrik¬
inspektoren auf diesem Gebiete Vieles, aber noch lange nicht Alles gebessert. In
Fabrikantenkreisen heißt es nach wie vor, daß Kinderarbeit in weiterem Umfange,
als das Gesetz gestatte, unentbehrlich sei, theils aus technischen Gründen, theils
aus Rücksicht auf die.internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie.
Das erste Moment trifft nicht halb zu; unentbehrlich ist die Kinderarbeit in keinem,
schwer ersetzbar in ganz wenigen Zweigen der Fabrikindustrie, wie etwa in der
Glasfabrikation. Wichtiger ist das zweite Moment, aber auch hier wird sehr
übertriebe!?. schlagend wird die ganze Argumentation durch die Thatfache
illustrirt, daß überall, wo die Fabrikinspektoren ans strenge Jnnehaltung der
gesetzlichen Bestimmungen achten, die Zahl der beschäftigten Kinder rapide ab-


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[0468] für Pommern: „In allen Industriezweigen ist man sehr geneigt, gerade diese Bestimmungen zu umgehen, und es sind viele Mittel und Wege ausgedacht, um die Aufsichtsbehörde zu täuschen. Sobald man die Fabrik betreten hat und bemerkt und erkannt worden ist, so ist in der Regel kurze Zeit darauf das ganze Arbeitspersonal von der Anwesenheit des Fabrikinspektors in Kennt¬ niß gesetzt, um alles Ungesetzliche bei etwaiger Annäherung so schnell als thunlich zu beseitigen. Ein beliebtes Manöver ist es z. B. Kinder zu verstecken und man pflegt dann in der Wahl des Verstecks durchaus nicht wählerisch zu sein; man läßt wohl auch Kinder einen Korb in die Hand nehmen und sendet sie weg, gleichsam als haben dieselben Essen gebracht u. s. w." Wenn der pflichttreue Beamte dann hinzufügt: „Gott sei Dank ist aber diese Altersklasse von Kindern noch nicht so taktfest im Lügen, daß man nicht durch einige scharf gestellte Fragen die Wahrheit zu hören bekommt," so muß jedem patriotischen Manne die Schamröthe in die Wangen steigen. Solche Erscheinungen sind auch durchaus nicht vereinzelt; Nachtarbeit der Kinder zeigt sich in manchen Distrikten als eingewurzelte Gewohnheit, ebenso gänzliche Vernachlässigung des Schulunterrichts und noch Schlimmeres kommt vor; Dr. Wolff, der Fabrik¬ inspektor für den Regierungsbezirk Düsseldorf, konstatirt u. A. einen schändlichen Fall, in welchem ein noch nicht sechszehnjähriger Knabe nicht nur regelmäßig den Tag- und Nachtwechsel der Schichten eingereiht, sondern auch in geradezu ungeheuerlicher Ausbeutung seiner Arbeitskraft 22^ Stunden lang ohne andere, als die usuellen Unterbrechungen, in einem Walzwerke beschäftigt worden ist. Das Ende war ein Unfall, welcher die Amputation eines Beines noth¬ wendig machte. Auf Veranlassung der Regierung wurde in der Untersuchung gegen den schuldigen Fabrikanten das höchste, gesetzlich zulässige Strafmaß be¬ antragt. Es beträgt — dreißig Mark! Glücklicherweise soll solchen schreienden Mißverhältnissen ein Ende gemacht werden durch die neuen Novellen zur Ge¬ werbeordnung, welche erheblich höhere Strafbestimmungen enthalten. Theils dnrch Güte, theils dnrch Veranlassung von Strafen haben die Fabrik¬ inspektoren auf diesem Gebiete Vieles, aber noch lange nicht Alles gebessert. In Fabrikantenkreisen heißt es nach wie vor, daß Kinderarbeit in weiterem Umfange, als das Gesetz gestatte, unentbehrlich sei, theils aus technischen Gründen, theils aus Rücksicht auf die.internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie. Das erste Moment trifft nicht halb zu; unentbehrlich ist die Kinderarbeit in keinem, schwer ersetzbar in ganz wenigen Zweigen der Fabrikindustrie, wie etwa in der Glasfabrikation. Wichtiger ist das zweite Moment, aber auch hier wird sehr übertriebe!?. schlagend wird die ganze Argumentation durch die Thatfache illustrirt, daß überall, wo die Fabrikinspektoren ans strenge Jnnehaltung der gesetzlichen Bestimmungen achten, die Zahl der beschäftigten Kinder rapide ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/468>, abgerufen am 27.09.2024.