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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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liegen die Dinge in Wirklichkeit! Wie viel bleibt noch zu thun, daß die gleich-
giltigen oder gar widerstrebenden Arbeiter auch nur in den Genuß der Rechte
gelangen, welche ihnen der hartherzige Staat längst gewährt hat! Ueberblicke
man das Bild im Großen und Ganzen, dann bleibt der nuverwindliche Ein¬
druck, daß es am Ende doch ebenso nützlich sein möchte, bestehendes Arbeiter¬
recht in Fleisch und Blut des Volkes übergehen zu lassen, als einseitig dar¬
nach zu streben, auf den vorläufig noch papierener Stamm immer neue pa¬
pierene Reiser zu propfen.

Am grellsten zeigen sich die herrschenden Uebelstände in dem zartesten
Pnnkte des modernen Arbeiterrechts, in den Schutzvorschriften über die Fabrik¬
beschäftigung von Kindern und jugendlichen Arbeitern. Diese Vorschriften haben
bisher ganz und gar nur in den Bänden der Gesetzsammlung existirt und wo
nicht die Fabrikinspektoren schon längere Zeit fungirt haben, ist es heute kaum
noch anders. Und doch sind diese Paragraphen der Gewerbeordnung ebenso
klar, wie sie den Unternehmern wahrhaftig nichts Uebertriebenes zumuthen.
Kinder unter 12 Jahren dürfen in Fabriken überhaupt nicht zu regelmäßiger
Beschäftigung angenommen werden. Kinder von 12--14 Jahren dürfen täglich
nicht mehr als sechs Stunden und nur daun beschäftigt werden, wenn dafür
gesorgt ist, daß sie täglich mindestens einen dreistündigen Schulunterricht er¬
halten. Jugendliche Arbeiter zwischen 14 und 16 Jahren dürfen nicht über
zehn Stunden täglich beschäftigt werden. Die Arbeitsstunden dürfen nicht vor
5Vz Uhr Morgens beginnen und nicht über 8V2 Uhr Abends dauern; Nacht¬
arbeit ist somit verboten. Ebenso Sonn- und Feiertagsnrbeit. Zwischen den
Arbeiten muß Vor- und Nachmittags eine Pause von ^2 Stunde und Mittags
eine ganze Freistunde, jedesmal anch Bewegung in freier Luft gewährt werden.
Dazu kommen -- beiläufig viel zu niedrig gefaßte -- Strafbestimmungen für
Uebertreibung dieser Vorschriften und Anordnungen über Arbeitsbücher, welche
für Kinder und jugendliche Arbeiter obligatorisch sind und von den Ortspolizei¬
behörden ausgefertigt werden müssen. Dies ist Alles. Und gerade gegen
diesen Theil ihrer Pflichten, dessen Beobachtung, wie es der Fabrikinspektor
zu Frankfurt a/O. in einem Zirkuläre an die Arbeitgeber seines Bezirks schön
und treffend ausdrückt, verhindern soll, "daß ein körperlich elendes und ver¬
kommenes, ein geistig und sittlich verwahrlostes Geschlecht heranwächst," zeigen
die Unternehmer durchschnittlich eine traurige Gleichgiltigkeit oder gar einen
hartnäckigen Widerstand! Ueberall, wo die Fabrikinspektoren ihre Thätigkeit
beginnen, müssen sie die auch nur annähernde Beobachtung jener Vorschriften
als Ausnahme bezeichnen; in der Regel wird ihnen zuwider gehandelt, sei es
aus Unkenntniß, sei es in offen eingestandenen oder nachweislichem Bewußtsein
der Gesetzwidrigkeit. So schreibt beispielsweise Herr Hertel, Fabrikinspektvr


liegen die Dinge in Wirklichkeit! Wie viel bleibt noch zu thun, daß die gleich-
giltigen oder gar widerstrebenden Arbeiter auch nur in den Genuß der Rechte
gelangen, welche ihnen der hartherzige Staat längst gewährt hat! Ueberblicke
man das Bild im Großen und Ganzen, dann bleibt der nuverwindliche Ein¬
druck, daß es am Ende doch ebenso nützlich sein möchte, bestehendes Arbeiter¬
recht in Fleisch und Blut des Volkes übergehen zu lassen, als einseitig dar¬
nach zu streben, auf den vorläufig noch papierener Stamm immer neue pa¬
pierene Reiser zu propfen.

Am grellsten zeigen sich die herrschenden Uebelstände in dem zartesten
Pnnkte des modernen Arbeiterrechts, in den Schutzvorschriften über die Fabrik¬
beschäftigung von Kindern und jugendlichen Arbeitern. Diese Vorschriften haben
bisher ganz und gar nur in den Bänden der Gesetzsammlung existirt und wo
nicht die Fabrikinspektoren schon längere Zeit fungirt haben, ist es heute kaum
noch anders. Und doch sind diese Paragraphen der Gewerbeordnung ebenso
klar, wie sie den Unternehmern wahrhaftig nichts Uebertriebenes zumuthen.
Kinder unter 12 Jahren dürfen in Fabriken überhaupt nicht zu regelmäßiger
Beschäftigung angenommen werden. Kinder von 12—14 Jahren dürfen täglich
nicht mehr als sechs Stunden und nur daun beschäftigt werden, wenn dafür
gesorgt ist, daß sie täglich mindestens einen dreistündigen Schulunterricht er¬
halten. Jugendliche Arbeiter zwischen 14 und 16 Jahren dürfen nicht über
zehn Stunden täglich beschäftigt werden. Die Arbeitsstunden dürfen nicht vor
5Vz Uhr Morgens beginnen und nicht über 8V2 Uhr Abends dauern; Nacht¬
arbeit ist somit verboten. Ebenso Sonn- und Feiertagsnrbeit. Zwischen den
Arbeiten muß Vor- und Nachmittags eine Pause von ^2 Stunde und Mittags
eine ganze Freistunde, jedesmal anch Bewegung in freier Luft gewährt werden.
Dazu kommen — beiläufig viel zu niedrig gefaßte — Strafbestimmungen für
Uebertreibung dieser Vorschriften und Anordnungen über Arbeitsbücher, welche
für Kinder und jugendliche Arbeiter obligatorisch sind und von den Ortspolizei¬
behörden ausgefertigt werden müssen. Dies ist Alles. Und gerade gegen
diesen Theil ihrer Pflichten, dessen Beobachtung, wie es der Fabrikinspektor
zu Frankfurt a/O. in einem Zirkuläre an die Arbeitgeber seines Bezirks schön
und treffend ausdrückt, verhindern soll, „daß ein körperlich elendes und ver¬
kommenes, ein geistig und sittlich verwahrlostes Geschlecht heranwächst," zeigen
die Unternehmer durchschnittlich eine traurige Gleichgiltigkeit oder gar einen
hartnäckigen Widerstand! Ueberall, wo die Fabrikinspektoren ihre Thätigkeit
beginnen, müssen sie die auch nur annähernde Beobachtung jener Vorschriften
als Ausnahme bezeichnen; in der Regel wird ihnen zuwider gehandelt, sei es
aus Unkenntniß, sei es in offen eingestandenen oder nachweislichem Bewußtsein
der Gesetzwidrigkeit. So schreibt beispielsweise Herr Hertel, Fabrikinspektvr


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[0467] liegen die Dinge in Wirklichkeit! Wie viel bleibt noch zu thun, daß die gleich- giltigen oder gar widerstrebenden Arbeiter auch nur in den Genuß der Rechte gelangen, welche ihnen der hartherzige Staat längst gewährt hat! Ueberblicke man das Bild im Großen und Ganzen, dann bleibt der nuverwindliche Ein¬ druck, daß es am Ende doch ebenso nützlich sein möchte, bestehendes Arbeiter¬ recht in Fleisch und Blut des Volkes übergehen zu lassen, als einseitig dar¬ nach zu streben, auf den vorläufig noch papierener Stamm immer neue pa¬ pierene Reiser zu propfen. Am grellsten zeigen sich die herrschenden Uebelstände in dem zartesten Pnnkte des modernen Arbeiterrechts, in den Schutzvorschriften über die Fabrik¬ beschäftigung von Kindern und jugendlichen Arbeitern. Diese Vorschriften haben bisher ganz und gar nur in den Bänden der Gesetzsammlung existirt und wo nicht die Fabrikinspektoren schon längere Zeit fungirt haben, ist es heute kaum noch anders. Und doch sind diese Paragraphen der Gewerbeordnung ebenso klar, wie sie den Unternehmern wahrhaftig nichts Uebertriebenes zumuthen. Kinder unter 12 Jahren dürfen in Fabriken überhaupt nicht zu regelmäßiger Beschäftigung angenommen werden. Kinder von 12—14 Jahren dürfen täglich nicht mehr als sechs Stunden und nur daun beschäftigt werden, wenn dafür gesorgt ist, daß sie täglich mindestens einen dreistündigen Schulunterricht er¬ halten. Jugendliche Arbeiter zwischen 14 und 16 Jahren dürfen nicht über zehn Stunden täglich beschäftigt werden. Die Arbeitsstunden dürfen nicht vor 5Vz Uhr Morgens beginnen und nicht über 8V2 Uhr Abends dauern; Nacht¬ arbeit ist somit verboten. Ebenso Sonn- und Feiertagsnrbeit. Zwischen den Arbeiten muß Vor- und Nachmittags eine Pause von ^2 Stunde und Mittags eine ganze Freistunde, jedesmal anch Bewegung in freier Luft gewährt werden. Dazu kommen — beiläufig viel zu niedrig gefaßte — Strafbestimmungen für Uebertreibung dieser Vorschriften und Anordnungen über Arbeitsbücher, welche für Kinder und jugendliche Arbeiter obligatorisch sind und von den Ortspolizei¬ behörden ausgefertigt werden müssen. Dies ist Alles. Und gerade gegen diesen Theil ihrer Pflichten, dessen Beobachtung, wie es der Fabrikinspektor zu Frankfurt a/O. in einem Zirkuläre an die Arbeitgeber seines Bezirks schön und treffend ausdrückt, verhindern soll, „daß ein körperlich elendes und ver¬ kommenes, ein geistig und sittlich verwahrlostes Geschlecht heranwächst," zeigen die Unternehmer durchschnittlich eine traurige Gleichgiltigkeit oder gar einen hartnäckigen Widerstand! Ueberall, wo die Fabrikinspektoren ihre Thätigkeit beginnen, müssen sie die auch nur annähernde Beobachtung jener Vorschriften als Ausnahme bezeichnen; in der Regel wird ihnen zuwider gehandelt, sei es aus Unkenntniß, sei es in offen eingestandenen oder nachweislichem Bewußtsein der Gesetzwidrigkeit. So schreibt beispielsweise Herr Hertel, Fabrikinspektvr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/467>, abgerufen am 20.10.2024.