Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die Herrschaft über die Gewissen anmassen, die Bacon und Gassendi der
Schule entrissen haben. Ihre allgemeinen Sätze sind für sie Salomons fabel¬
hafter Ring; alle Thore öffnen sich bei ihrer Ankunft, das Verborgenste wird
aufgedeckt und die ganze Natur unterwirft sich ihrem Szepter. Sie sind
Naturkündiger, Aerzte, Rechtslehrer und Theologen, blos weil sie Metaphysik
'verstehen; sie würden auch Redner und Dichter sein, wenn sie sich nicht allzu
hoch hielten, Redner oder Dichter zu werden."

"Man hat in der Meinung, daß alle unsre Begriffe uns durch die Sinne
beigebracht werden, und daß wir uns keinen eigentlichen Begriff von unkörper¬
lichen Wesen machen können, ich weiß nicht was Gottloses finden wollen.
Allein Krankheiten und Träume beweisen unumstößlich, daß die Vorstellungen
und das Gedächtniß mit dem Bau des Gehirns verknüpft sind, und daß
folglich die Begriffe, wenn sie sich der Materie eindrücken, keine unkörperlichen
Begriffe vorstellen können."

Aber der Materialismus gilt nur für die Wissenschaft, nicht für das Leben.
Aus dem Atheismus, meint Haller, folgt die allgemeine Auflösung der Ge¬
sellschaft, die Herrschaft des Lasters, der Krieg Aller gegen Alle, aus der Liebe
Gottes gehn alle Tugenden hervor. Der ist noch kein rechter Atheist, der
etwas andres liebt als sich selbst. Auch bei dem Freigeist entspringt das
wenige Gute, das er besitzt, aus den Resten des Christenthums. Früher hatte
Haller mit Wolf in manchen heidnischen Ländern, namentlich in China, eine
vortreffliche Moralität gefunden: jetzt zeigt er, daß Alles Lug und Trug sei.
"Die Läugner eines rächenden Gottes" (also auch die Deisten) "schränken
unsre Glückseligkeit auf die Dauer weniger Jahre und auf den Genuß der
Ehre, der Wollust, kurz auf angenehme Empfindungen ein."

"Lamettrie empfiehlt die Wollust, die ohnehin den Menschen allzu stark
beherrscht, als das höchste Gut. Allen Reiz der buntesten Farben, die in
seines Pinsels Gewalt sind, hat er angewandt, diesem Feind aller ernsthaften
Gedanken eine neue Stärke zu geben, und Haller wird mehr als jemals be¬
reun, daß er die Doris hat bekannt werden lassen, nachdem sein unerbittlicher
Uebersetzer auch dies kleine Werk, nach seiner Art verkleidet, gleich im Anfang
eines Buchs hat abdrucken lassen, dessen Ende so schändlich ist, daß es von
Niemand kann gelesen werden, der noch erröthet."

Die Heftigkeit dieser Antwort verräth doch, daß Haller im Stillen fühlte,
hier sei etwas nicht richtig; daß er es sich aber nicht erklären konnte.

Im Grund lehrte Lamettrie nichts anderes als alle übrigen französischen
Philosophen, aber seiner cynischen Ausdrücke wegen machte man ihn zum
Sündenbock, um der Welt zu zeigen, so schlimm sei man noch lange nicht! --
Lessing sprach sich (Juni 1751) sehr hart über ihn aus.


die Herrschaft über die Gewissen anmassen, die Bacon und Gassendi der
Schule entrissen haben. Ihre allgemeinen Sätze sind für sie Salomons fabel¬
hafter Ring; alle Thore öffnen sich bei ihrer Ankunft, das Verborgenste wird
aufgedeckt und die ganze Natur unterwirft sich ihrem Szepter. Sie sind
Naturkündiger, Aerzte, Rechtslehrer und Theologen, blos weil sie Metaphysik
'verstehen; sie würden auch Redner und Dichter sein, wenn sie sich nicht allzu
hoch hielten, Redner oder Dichter zu werden."

„Man hat in der Meinung, daß alle unsre Begriffe uns durch die Sinne
beigebracht werden, und daß wir uns keinen eigentlichen Begriff von unkörper¬
lichen Wesen machen können, ich weiß nicht was Gottloses finden wollen.
Allein Krankheiten und Träume beweisen unumstößlich, daß die Vorstellungen
und das Gedächtniß mit dem Bau des Gehirns verknüpft sind, und daß
folglich die Begriffe, wenn sie sich der Materie eindrücken, keine unkörperlichen
Begriffe vorstellen können."

Aber der Materialismus gilt nur für die Wissenschaft, nicht für das Leben.
Aus dem Atheismus, meint Haller, folgt die allgemeine Auflösung der Ge¬
sellschaft, die Herrschaft des Lasters, der Krieg Aller gegen Alle, aus der Liebe
Gottes gehn alle Tugenden hervor. Der ist noch kein rechter Atheist, der
etwas andres liebt als sich selbst. Auch bei dem Freigeist entspringt das
wenige Gute, das er besitzt, aus den Resten des Christenthums. Früher hatte
Haller mit Wolf in manchen heidnischen Ländern, namentlich in China, eine
vortreffliche Moralität gefunden: jetzt zeigt er, daß Alles Lug und Trug sei.
„Die Läugner eines rächenden Gottes" (also auch die Deisten) „schränken
unsre Glückseligkeit auf die Dauer weniger Jahre und auf den Genuß der
Ehre, der Wollust, kurz auf angenehme Empfindungen ein."

„Lamettrie empfiehlt die Wollust, die ohnehin den Menschen allzu stark
beherrscht, als das höchste Gut. Allen Reiz der buntesten Farben, die in
seines Pinsels Gewalt sind, hat er angewandt, diesem Feind aller ernsthaften
Gedanken eine neue Stärke zu geben, und Haller wird mehr als jemals be¬
reun, daß er die Doris hat bekannt werden lassen, nachdem sein unerbittlicher
Uebersetzer auch dies kleine Werk, nach seiner Art verkleidet, gleich im Anfang
eines Buchs hat abdrucken lassen, dessen Ende so schändlich ist, daß es von
Niemand kann gelesen werden, der noch erröthet."

Die Heftigkeit dieser Antwort verräth doch, daß Haller im Stillen fühlte,
hier sei etwas nicht richtig; daß er es sich aber nicht erklären konnte.

Im Grund lehrte Lamettrie nichts anderes als alle übrigen französischen
Philosophen, aber seiner cynischen Ausdrücke wegen machte man ihn zum
Sündenbock, um der Welt zu zeigen, so schlimm sei man noch lange nicht! —
Lessing sprach sich (Juni 1751) sehr hart über ihn aus.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0459" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/139752"/>
          <p xml:id="ID_1453" prev="#ID_1452"> die Herrschaft über die Gewissen anmassen, die Bacon und Gassendi der<lb/>
Schule entrissen haben. Ihre allgemeinen Sätze sind für sie Salomons fabel¬<lb/>
hafter Ring; alle Thore öffnen sich bei ihrer Ankunft, das Verborgenste wird<lb/>
aufgedeckt und die ganze Natur unterwirft sich ihrem Szepter. Sie sind<lb/>
Naturkündiger, Aerzte, Rechtslehrer und Theologen, blos weil sie Metaphysik<lb/>
'verstehen; sie würden auch Redner und Dichter sein, wenn sie sich nicht allzu<lb/>
hoch hielten, Redner oder Dichter zu werden."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1454"> &#x201E;Man hat in der Meinung, daß alle unsre Begriffe uns durch die Sinne<lb/>
beigebracht werden, und daß wir uns keinen eigentlichen Begriff von unkörper¬<lb/>
lichen Wesen machen können, ich weiß nicht was Gottloses finden wollen.<lb/>
Allein Krankheiten und Träume beweisen unumstößlich, daß die Vorstellungen<lb/>
und das Gedächtniß mit dem Bau des Gehirns verknüpft sind, und daß<lb/>
folglich die Begriffe, wenn sie sich der Materie eindrücken, keine unkörperlichen<lb/>
Begriffe vorstellen können."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1455"> Aber der Materialismus gilt nur für die Wissenschaft, nicht für das Leben.<lb/>
Aus dem Atheismus, meint Haller, folgt die allgemeine Auflösung der Ge¬<lb/>
sellschaft, die Herrschaft des Lasters, der Krieg Aller gegen Alle, aus der Liebe<lb/>
Gottes gehn alle Tugenden hervor. Der ist noch kein rechter Atheist, der<lb/>
etwas andres liebt als sich selbst. Auch bei dem Freigeist entspringt das<lb/>
wenige Gute, das er besitzt, aus den Resten des Christenthums. Früher hatte<lb/>
Haller mit Wolf in manchen heidnischen Ländern, namentlich in China, eine<lb/>
vortreffliche Moralität gefunden: jetzt zeigt er, daß Alles Lug und Trug sei.<lb/>
&#x201E;Die Läugner eines rächenden Gottes" (also auch die Deisten) &#x201E;schränken<lb/>
unsre Glückseligkeit auf die Dauer weniger Jahre und auf den Genuß der<lb/>
Ehre, der Wollust, kurz auf angenehme Empfindungen ein."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1456"> &#x201E;Lamettrie empfiehlt die Wollust, die ohnehin den Menschen allzu stark<lb/>
beherrscht, als das höchste Gut. Allen Reiz der buntesten Farben, die in<lb/>
seines Pinsels Gewalt sind, hat er angewandt, diesem Feind aller ernsthaften<lb/>
Gedanken eine neue Stärke zu geben, und Haller wird mehr als jemals be¬<lb/>
reun, daß er die Doris hat bekannt werden lassen, nachdem sein unerbittlicher<lb/>
Uebersetzer auch dies kleine Werk, nach seiner Art verkleidet, gleich im Anfang<lb/>
eines Buchs hat abdrucken lassen, dessen Ende so schändlich ist, daß es von<lb/>
Niemand kann gelesen werden, der noch erröthet."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1457"> Die Heftigkeit dieser Antwort verräth doch, daß Haller im Stillen fühlte,<lb/>
hier sei etwas nicht richtig; daß er es sich aber nicht erklären konnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1458"> Im Grund lehrte Lamettrie nichts anderes als alle übrigen französischen<lb/>
Philosophen, aber seiner cynischen Ausdrücke wegen machte man ihn zum<lb/>
Sündenbock, um der Welt zu zeigen, so schlimm sei man noch lange nicht! &#x2014;<lb/>
Lessing sprach sich (Juni 1751) sehr hart über ihn aus.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0459] die Herrschaft über die Gewissen anmassen, die Bacon und Gassendi der Schule entrissen haben. Ihre allgemeinen Sätze sind für sie Salomons fabel¬ hafter Ring; alle Thore öffnen sich bei ihrer Ankunft, das Verborgenste wird aufgedeckt und die ganze Natur unterwirft sich ihrem Szepter. Sie sind Naturkündiger, Aerzte, Rechtslehrer und Theologen, blos weil sie Metaphysik 'verstehen; sie würden auch Redner und Dichter sein, wenn sie sich nicht allzu hoch hielten, Redner oder Dichter zu werden." „Man hat in der Meinung, daß alle unsre Begriffe uns durch die Sinne beigebracht werden, und daß wir uns keinen eigentlichen Begriff von unkörper¬ lichen Wesen machen können, ich weiß nicht was Gottloses finden wollen. Allein Krankheiten und Träume beweisen unumstößlich, daß die Vorstellungen und das Gedächtniß mit dem Bau des Gehirns verknüpft sind, und daß folglich die Begriffe, wenn sie sich der Materie eindrücken, keine unkörperlichen Begriffe vorstellen können." Aber der Materialismus gilt nur für die Wissenschaft, nicht für das Leben. Aus dem Atheismus, meint Haller, folgt die allgemeine Auflösung der Ge¬ sellschaft, die Herrschaft des Lasters, der Krieg Aller gegen Alle, aus der Liebe Gottes gehn alle Tugenden hervor. Der ist noch kein rechter Atheist, der etwas andres liebt als sich selbst. Auch bei dem Freigeist entspringt das wenige Gute, das er besitzt, aus den Resten des Christenthums. Früher hatte Haller mit Wolf in manchen heidnischen Ländern, namentlich in China, eine vortreffliche Moralität gefunden: jetzt zeigt er, daß Alles Lug und Trug sei. „Die Läugner eines rächenden Gottes" (also auch die Deisten) „schränken unsre Glückseligkeit auf die Dauer weniger Jahre und auf den Genuß der Ehre, der Wollust, kurz auf angenehme Empfindungen ein." „Lamettrie empfiehlt die Wollust, die ohnehin den Menschen allzu stark beherrscht, als das höchste Gut. Allen Reiz der buntesten Farben, die in seines Pinsels Gewalt sind, hat er angewandt, diesem Feind aller ernsthaften Gedanken eine neue Stärke zu geben, und Haller wird mehr als jemals be¬ reun, daß er die Doris hat bekannt werden lassen, nachdem sein unerbittlicher Uebersetzer auch dies kleine Werk, nach seiner Art verkleidet, gleich im Anfang eines Buchs hat abdrucken lassen, dessen Ende so schändlich ist, daß es von Niemand kann gelesen werden, der noch erröthet." Die Heftigkeit dieser Antwort verräth doch, daß Haller im Stillen fühlte, hier sei etwas nicht richtig; daß er es sich aber nicht erklären konnte. Im Grund lehrte Lamettrie nichts anderes als alle übrigen französischen Philosophen, aber seiner cynischen Ausdrücke wegen machte man ihn zum Sündenbock, um der Welt zu zeigen, so schlimm sei man noch lange nicht! — Lessing sprach sich (Juni 1751) sehr hart über ihn aus.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/459
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/459>, abgerufen am 27.09.2024.