Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die Einbildungskraft beschäftigt, so läßt er ihr keine Zeil, auf spitze Zweifel zu
fallen. Diese einzige Betrachtung sollte den Messias schätzbar machen und die-
jenigen behutsamer, welche von der Natur so verwahrlost sind oder sich selbst
verwahrlost haben, daß sie die poetischen Schönheiten desselben nicht empfinden."

"Ich habe Gelegenheit gehabt", schreibt Sulz er an Bodmer 30. Juni
1751, "den Herrn von Voltaire vom Messias zu unterhalten. Was mir
Haller von den Franzosen ^überhaupt gesagt, "zuÄs-sont trop imxiss x>o>ir
'Foütsr xosius as sstts naturf, ist eingetroffen. Voltaire wollte sich nicht
bereden lassen, die französische Uebersetzung zu lesen: er dürfe es nicht eher
annehmen, bis er etwas von gleichem Schlage dagegen geben könne; er er¬
warte aus Dänemark ein Gedicht über die Jungfrau; sobald es gekommen,
wollen wir die Gedichte austauschen. ,,.1s vormals visu 1s Zlsssis", setzte er
hinzu, s'sse is öls an, ?srs stsrnsl se 1s trers an. Le. IZsxrit, se ,js suis
80Q trss-duindls ssrvitsur, wsis xrotavs Ms,js suis, n'oss xss insttrs
l^^ins-iQ g. I'sQLsnsoir. -- Es geht die Rede, daß er sein Heldengedicht, 1^
?u.os11s, werde drucken lassen; er hat es schon Vielen hier vorgelesen, es soll
entsetzliche Spöttereien über die Religion enthalten." -- "Lamettrie", sährt
er fort, "hat eine Schrift herausgegeben, darin er Hallers Doris übersetzt."

Dieser Lamettrie (46 I.), ein wegen seines Cynismus selbst bei den
Franzosen berüchtigter Freigeist, hatte in Leyden unter Börhave, dein Lehrer
Hallers, studirt; wegen seines Gedichts "l'bumms waeliws" hatte er aus
Holland weichen müssen; Friedrich, die ihn als guten Gesellschafter schätzte,
hatte ihn zu seinem Vorleser gemacht.

In der neuen Schrift "1'art as Mur" nannte er sich Hallers Schüler
und nahm die "Doris" gleichsam zum Motto.

Hall er (43 I.) hatte eben das Präsidium der Akademie in Göttingen
übernommen. Hatte ihm schon die Berufung Voltaire's nach Berlin Aergerniß
genug gegeben, so wurde er durch diesen neuen Berliner doppelt verstimmt.

In der That kam er in eine unbequeme Lage. Die "Doris" konnte er
nicht ableugnen, und wenn er als Christ den Materialismus verabscheute, so
stand er als Physiolog ihm nahe: seine Physiologie hätte den Titel ,,1'Koiiuük
lliaeliiiis" allenfalls auch ertragen. In seinem System bleibt für irgend eine
wunderthätig oder freiheitlich in das Gewebe der Reize eingreifende Kraft nicht
der mindeste Spielraum übrig; Stahl's Versuch, die einzelnen Funktionen des
Organismus einer sogenannten Lebenskraft zu subordiniren, weist er ent¬
schieden zurück.

Freilich hatte er sich eben in der "Prüfung der Sekte, die an allem
zweifelt", gegen die Voltairianer ausgesprochen, aber nicht minder gegen die
Wölfische Schule. "Es sind vermessene Geister, die sich nach und nach eben


die Einbildungskraft beschäftigt, so läßt er ihr keine Zeil, auf spitze Zweifel zu
fallen. Diese einzige Betrachtung sollte den Messias schätzbar machen und die-
jenigen behutsamer, welche von der Natur so verwahrlost sind oder sich selbst
verwahrlost haben, daß sie die poetischen Schönheiten desselben nicht empfinden."

„Ich habe Gelegenheit gehabt", schreibt Sulz er an Bodmer 30. Juni
1751, „den Herrn von Voltaire vom Messias zu unterhalten. Was mir
Haller von den Franzosen ^überhaupt gesagt, «zuÄs-sont trop imxiss x>o>ir
'Foütsr xosius as sstts naturf, ist eingetroffen. Voltaire wollte sich nicht
bereden lassen, die französische Uebersetzung zu lesen: er dürfe es nicht eher
annehmen, bis er etwas von gleichem Schlage dagegen geben könne; er er¬
warte aus Dänemark ein Gedicht über die Jungfrau; sobald es gekommen,
wollen wir die Gedichte austauschen. ,,.1s vormals visu 1s Zlsssis", setzte er
hinzu, s'sse is öls an, ?srs stsrnsl se 1s trers an. Le. IZsxrit, se ,js suis
80Q trss-duindls ssrvitsur, wsis xrotavs Ms,js suis, n'oss xss insttrs
l^^ins-iQ g. I'sQLsnsoir. — Es geht die Rede, daß er sein Heldengedicht, 1^
?u.os11s, werde drucken lassen; er hat es schon Vielen hier vorgelesen, es soll
entsetzliche Spöttereien über die Religion enthalten." — „Lamettrie", sährt
er fort, „hat eine Schrift herausgegeben, darin er Hallers Doris übersetzt."

Dieser Lamettrie (46 I.), ein wegen seines Cynismus selbst bei den
Franzosen berüchtigter Freigeist, hatte in Leyden unter Börhave, dein Lehrer
Hallers, studirt; wegen seines Gedichts „l'bumms waeliws" hatte er aus
Holland weichen müssen; Friedrich, die ihn als guten Gesellschafter schätzte,
hatte ihn zu seinem Vorleser gemacht.

In der neuen Schrift „1'art as Mur" nannte er sich Hallers Schüler
und nahm die „Doris" gleichsam zum Motto.

Hall er (43 I.) hatte eben das Präsidium der Akademie in Göttingen
übernommen. Hatte ihm schon die Berufung Voltaire's nach Berlin Aergerniß
genug gegeben, so wurde er durch diesen neuen Berliner doppelt verstimmt.

In der That kam er in eine unbequeme Lage. Die „Doris" konnte er
nicht ableugnen, und wenn er als Christ den Materialismus verabscheute, so
stand er als Physiolog ihm nahe: seine Physiologie hätte den Titel ,,1'Koiiuük
lliaeliiiis" allenfalls auch ertragen. In seinem System bleibt für irgend eine
wunderthätig oder freiheitlich in das Gewebe der Reize eingreifende Kraft nicht
der mindeste Spielraum übrig; Stahl's Versuch, die einzelnen Funktionen des
Organismus einer sogenannten Lebenskraft zu subordiniren, weist er ent¬
schieden zurück.

Freilich hatte er sich eben in der „Prüfung der Sekte, die an allem
zweifelt", gegen die Voltairianer ausgesprochen, aber nicht minder gegen die
Wölfische Schule. „Es sind vermessene Geister, die sich nach und nach eben


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0458" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/139751"/>
          <p xml:id="ID_1446" prev="#ID_1445"> die Einbildungskraft beschäftigt, so läßt er ihr keine Zeil, auf spitze Zweifel zu<lb/>
fallen. Diese einzige Betrachtung sollte den Messias schätzbar machen und die-<lb/>
jenigen behutsamer, welche von der Natur so verwahrlost sind oder sich selbst<lb/>
verwahrlost haben, daß sie die poetischen Schönheiten desselben nicht empfinden."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1447"> &#x201E;Ich habe Gelegenheit gehabt", schreibt Sulz er an Bodmer 30. Juni<lb/>
1751, &#x201E;den Herrn von Voltaire vom Messias zu unterhalten. Was mir<lb/>
Haller von den Franzosen ^überhaupt gesagt, «zuÄs-sont trop imxiss x&gt;o&gt;ir<lb/>
'Foütsr xosius as sstts naturf, ist eingetroffen. Voltaire wollte sich nicht<lb/>
bereden lassen, die französische Uebersetzung zu lesen: er dürfe es nicht eher<lb/>
annehmen, bis er etwas von gleichem Schlage dagegen geben könne; er er¬<lb/>
warte aus Dänemark ein Gedicht über die Jungfrau; sobald es gekommen,<lb/>
wollen wir die Gedichte austauschen. ,,.1s vormals visu 1s Zlsssis", setzte er<lb/>
hinzu, s'sse is öls an, ?srs stsrnsl se 1s trers an. Le. IZsxrit, se ,js suis<lb/>
80Q trss-duindls ssrvitsur, wsis xrotavs Ms,js suis, n'oss xss insttrs<lb/>
l^^ins-iQ g. I'sQLsnsoir. &#x2014; Es geht die Rede, daß er sein Heldengedicht, 1^<lb/>
?u.os11s, werde drucken lassen; er hat es schon Vielen hier vorgelesen, es soll<lb/>
entsetzliche Spöttereien über die Religion enthalten." &#x2014; &#x201E;Lamettrie", sährt<lb/>
er fort, &#x201E;hat eine Schrift herausgegeben, darin er Hallers Doris übersetzt."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1448"> Dieser Lamettrie (46 I.), ein wegen seines Cynismus selbst bei den<lb/>
Franzosen berüchtigter Freigeist, hatte in Leyden unter Börhave, dein Lehrer<lb/>
Hallers, studirt; wegen seines Gedichts &#x201E;l'bumms waeliws" hatte er aus<lb/>
Holland weichen müssen; Friedrich, die ihn als guten Gesellschafter schätzte,<lb/>
hatte ihn zu seinem Vorleser gemacht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1449"> In der neuen Schrift &#x201E;1'art as Mur" nannte er sich Hallers Schüler<lb/>
und nahm die &#x201E;Doris" gleichsam zum Motto.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1450"> Hall er (43 I.) hatte eben das Präsidium der Akademie in Göttingen<lb/>
übernommen. Hatte ihm schon die Berufung Voltaire's nach Berlin Aergerniß<lb/>
genug gegeben, so wurde er durch diesen neuen Berliner doppelt verstimmt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1451"> In der That kam er in eine unbequeme Lage. Die &#x201E;Doris" konnte er<lb/>
nicht ableugnen, und wenn er als Christ den Materialismus verabscheute, so<lb/>
stand er als Physiolog ihm nahe: seine Physiologie hätte den Titel ,,1'Koiiuük<lb/>
lliaeliiiis" allenfalls auch ertragen. In seinem System bleibt für irgend eine<lb/>
wunderthätig oder freiheitlich in das Gewebe der Reize eingreifende Kraft nicht<lb/>
der mindeste Spielraum übrig; Stahl's Versuch, die einzelnen Funktionen des<lb/>
Organismus einer sogenannten Lebenskraft zu subordiniren, weist er ent¬<lb/>
schieden zurück.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1452" next="#ID_1453"> Freilich hatte er sich eben in der &#x201E;Prüfung der Sekte, die an allem<lb/>
zweifelt", gegen die Voltairianer ausgesprochen, aber nicht minder gegen die<lb/>
Wölfische Schule. &#x201E;Es sind vermessene Geister, die sich nach und nach eben</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0458] die Einbildungskraft beschäftigt, so läßt er ihr keine Zeil, auf spitze Zweifel zu fallen. Diese einzige Betrachtung sollte den Messias schätzbar machen und die- jenigen behutsamer, welche von der Natur so verwahrlost sind oder sich selbst verwahrlost haben, daß sie die poetischen Schönheiten desselben nicht empfinden." „Ich habe Gelegenheit gehabt", schreibt Sulz er an Bodmer 30. Juni 1751, „den Herrn von Voltaire vom Messias zu unterhalten. Was mir Haller von den Franzosen ^überhaupt gesagt, «zuÄs-sont trop imxiss x>o>ir 'Foütsr xosius as sstts naturf, ist eingetroffen. Voltaire wollte sich nicht bereden lassen, die französische Uebersetzung zu lesen: er dürfe es nicht eher annehmen, bis er etwas von gleichem Schlage dagegen geben könne; er er¬ warte aus Dänemark ein Gedicht über die Jungfrau; sobald es gekommen, wollen wir die Gedichte austauschen. ,,.1s vormals visu 1s Zlsssis", setzte er hinzu, s'sse is öls an, ?srs stsrnsl se 1s trers an. Le. IZsxrit, se ,js suis 80Q trss-duindls ssrvitsur, wsis xrotavs Ms,js suis, n'oss xss insttrs l^^ins-iQ g. I'sQLsnsoir. — Es geht die Rede, daß er sein Heldengedicht, 1^ ?u.os11s, werde drucken lassen; er hat es schon Vielen hier vorgelesen, es soll entsetzliche Spöttereien über die Religion enthalten." — „Lamettrie", sährt er fort, „hat eine Schrift herausgegeben, darin er Hallers Doris übersetzt." Dieser Lamettrie (46 I.), ein wegen seines Cynismus selbst bei den Franzosen berüchtigter Freigeist, hatte in Leyden unter Börhave, dein Lehrer Hallers, studirt; wegen seines Gedichts „l'bumms waeliws" hatte er aus Holland weichen müssen; Friedrich, die ihn als guten Gesellschafter schätzte, hatte ihn zu seinem Vorleser gemacht. In der neuen Schrift „1'art as Mur" nannte er sich Hallers Schüler und nahm die „Doris" gleichsam zum Motto. Hall er (43 I.) hatte eben das Präsidium der Akademie in Göttingen übernommen. Hatte ihm schon die Berufung Voltaire's nach Berlin Aergerniß genug gegeben, so wurde er durch diesen neuen Berliner doppelt verstimmt. In der That kam er in eine unbequeme Lage. Die „Doris" konnte er nicht ableugnen, und wenn er als Christ den Materialismus verabscheute, so stand er als Physiolog ihm nahe: seine Physiologie hätte den Titel ,,1'Koiiuük lliaeliiiis" allenfalls auch ertragen. In seinem System bleibt für irgend eine wunderthätig oder freiheitlich in das Gewebe der Reize eingreifende Kraft nicht der mindeste Spielraum übrig; Stahl's Versuch, die einzelnen Funktionen des Organismus einer sogenannten Lebenskraft zu subordiniren, weist er ent¬ schieden zurück. Freilich hatte er sich eben in der „Prüfung der Sekte, die an allem zweifelt", gegen die Voltairianer ausgesprochen, aber nicht minder gegen die Wölfische Schule. „Es sind vermessene Geister, die sich nach und nach eben

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/458
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/458>, abgerufen am 27.09.2024.