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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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ihrer Versetzungen weit vortheilhafter bei der schönen Literatur angewandt
werden." Solche Ideen wurden für Lessing sehr fruchtbar.

Mit größerer Härte kann man sich wohl kaum über ein Volk aussprechen
als Lessing über die Franzosen. Aber keiner hat die Franzosen so gründlich
studirt, keiner hat soviel von ihnen gelernt, auch für die deutsche Sprache.

Lessings Stil war für Deutschland etwas Neues; er ist der erste von
unsern Schriftstellern, mit dem wir verkehren, als wäre er unsers Gleichen. Die
Eigenthümlichkeit dieses Stils liegt darin, daß das Ziel, wohin er strebt, oder,
wenn man den militärischen Ausdruck verstattet, die Festung, die er nehmen
will, maßgebend ist für die Gliederung und Bewegung seiner Sätze: sie rücken
in Schlachtordnung heran, jeder so gestellt, daß er nie dem andern in den
Weg kommt, jeder ist da zur rechten Zeit, weder zu früh noch zu spät; nie
ein Verlornes Tempo; es wird nicht geduldet, daß irgend ein Nebengedanke
in den Weg läuft. Aehnlich gliedern sich innerhalb des einzelnen Satzes die
Worte: jedes steht an seinem Platz, wo es der Tonfall erfordert, die Stelle
bezeichnet genau sein Gewicht. Selbst die Inversionen bezeichnen regelmäßig
einen Sprung, der rascher zum Ziel führt als der grade Weg.

Aber eine militärische Aktion ist durch die bloße Anordnung nicht durchzu¬
führen, es muß das Feuer des Willens hinzukommen; und dieser ist das Ent¬
scheidende bei Les sing's Stil: nicht blos, wo der Gegenstand sein Gemüth
heftig erregt, überall, auch bei rein wissenschaftlichen Deduktionen empfinden
wir die Macht eines willenskräftigen Mannes. Jede seiner logischen Folge¬
rungen ist eine Handlung, ein Akt des Willens; der Verstand ist das Instru¬
ment, der Wille hat die Leitung. Stellen ruhiger Betrachtung, hingebender
Träumerei finden sich bei ihm fast nie.

Die bessern deutschen Prosaiker aus Luther's Zeit haben diese Prosa
nicht: es ist in ihrer Darstellung etwas Behagliches und Gelassenes, das selbst
in der schärfsten Polemik nicht ganz aufhört; sie fühlen sich so unendlich reich
an Bildern und Ideen, daß sie an eine künstlerische Ordnung derselben gar
nicht denken; sie kommen ihnen ungesucht, und sie überlassen sich willig ihrem
Spiele.

Lessing's Vorzüge sind die nämlichen, welche die besten französischen
Schriftsteller zeigen, die nämlichen, auf deren Kultur die französische Sprache
seit Descartes und Pascal mit Bewußtsein und folgerichtig hingearbeitet hat.
Les sing ist bei den Franzosen in die Schule gegangen, und alle bessern
Schriftstellern unsrer Renaissance haben dasselbe gethan.

Es ist interessant, bei Umarbeitungen Justus Möser's Verfahren mit
dem Lessing's zu vergleichen: von beiden haben wir Proben. Lessing arbeitet
seine Sätze immer pointirter heraus, während Möser sich gern schelmisch zu-


ihrer Versetzungen weit vortheilhafter bei der schönen Literatur angewandt
werden." Solche Ideen wurden für Lessing sehr fruchtbar.

Mit größerer Härte kann man sich wohl kaum über ein Volk aussprechen
als Lessing über die Franzosen. Aber keiner hat die Franzosen so gründlich
studirt, keiner hat soviel von ihnen gelernt, auch für die deutsche Sprache.

Lessings Stil war für Deutschland etwas Neues; er ist der erste von
unsern Schriftstellern, mit dem wir verkehren, als wäre er unsers Gleichen. Die
Eigenthümlichkeit dieses Stils liegt darin, daß das Ziel, wohin er strebt, oder,
wenn man den militärischen Ausdruck verstattet, die Festung, die er nehmen
will, maßgebend ist für die Gliederung und Bewegung seiner Sätze: sie rücken
in Schlachtordnung heran, jeder so gestellt, daß er nie dem andern in den
Weg kommt, jeder ist da zur rechten Zeit, weder zu früh noch zu spät; nie
ein Verlornes Tempo; es wird nicht geduldet, daß irgend ein Nebengedanke
in den Weg läuft. Aehnlich gliedern sich innerhalb des einzelnen Satzes die
Worte: jedes steht an seinem Platz, wo es der Tonfall erfordert, die Stelle
bezeichnet genau sein Gewicht. Selbst die Inversionen bezeichnen regelmäßig
einen Sprung, der rascher zum Ziel führt als der grade Weg.

Aber eine militärische Aktion ist durch die bloße Anordnung nicht durchzu¬
führen, es muß das Feuer des Willens hinzukommen; und dieser ist das Ent¬
scheidende bei Les sing's Stil: nicht blos, wo der Gegenstand sein Gemüth
heftig erregt, überall, auch bei rein wissenschaftlichen Deduktionen empfinden
wir die Macht eines willenskräftigen Mannes. Jede seiner logischen Folge¬
rungen ist eine Handlung, ein Akt des Willens; der Verstand ist das Instru¬
ment, der Wille hat die Leitung. Stellen ruhiger Betrachtung, hingebender
Träumerei finden sich bei ihm fast nie.

Die bessern deutschen Prosaiker aus Luther's Zeit haben diese Prosa
nicht: es ist in ihrer Darstellung etwas Behagliches und Gelassenes, das selbst
in der schärfsten Polemik nicht ganz aufhört; sie fühlen sich so unendlich reich
an Bildern und Ideen, daß sie an eine künstlerische Ordnung derselben gar
nicht denken; sie kommen ihnen ungesucht, und sie überlassen sich willig ihrem
Spiele.

Lessing's Vorzüge sind die nämlichen, welche die besten französischen
Schriftsteller zeigen, die nämlichen, auf deren Kultur die französische Sprache
seit Descartes und Pascal mit Bewußtsein und folgerichtig hingearbeitet hat.
Les sing ist bei den Franzosen in die Schule gegangen, und alle bessern
Schriftstellern unsrer Renaissance haben dasselbe gethan.

Es ist interessant, bei Umarbeitungen Justus Möser's Verfahren mit
dem Lessing's zu vergleichen: von beiden haben wir Proben. Lessing arbeitet
seine Sätze immer pointirter heraus, während Möser sich gern schelmisch zu-


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[0454] ihrer Versetzungen weit vortheilhafter bei der schönen Literatur angewandt werden." Solche Ideen wurden für Lessing sehr fruchtbar. Mit größerer Härte kann man sich wohl kaum über ein Volk aussprechen als Lessing über die Franzosen. Aber keiner hat die Franzosen so gründlich studirt, keiner hat soviel von ihnen gelernt, auch für die deutsche Sprache. Lessings Stil war für Deutschland etwas Neues; er ist der erste von unsern Schriftstellern, mit dem wir verkehren, als wäre er unsers Gleichen. Die Eigenthümlichkeit dieses Stils liegt darin, daß das Ziel, wohin er strebt, oder, wenn man den militärischen Ausdruck verstattet, die Festung, die er nehmen will, maßgebend ist für die Gliederung und Bewegung seiner Sätze: sie rücken in Schlachtordnung heran, jeder so gestellt, daß er nie dem andern in den Weg kommt, jeder ist da zur rechten Zeit, weder zu früh noch zu spät; nie ein Verlornes Tempo; es wird nicht geduldet, daß irgend ein Nebengedanke in den Weg läuft. Aehnlich gliedern sich innerhalb des einzelnen Satzes die Worte: jedes steht an seinem Platz, wo es der Tonfall erfordert, die Stelle bezeichnet genau sein Gewicht. Selbst die Inversionen bezeichnen regelmäßig einen Sprung, der rascher zum Ziel führt als der grade Weg. Aber eine militärische Aktion ist durch die bloße Anordnung nicht durchzu¬ führen, es muß das Feuer des Willens hinzukommen; und dieser ist das Ent¬ scheidende bei Les sing's Stil: nicht blos, wo der Gegenstand sein Gemüth heftig erregt, überall, auch bei rein wissenschaftlichen Deduktionen empfinden wir die Macht eines willenskräftigen Mannes. Jede seiner logischen Folge¬ rungen ist eine Handlung, ein Akt des Willens; der Verstand ist das Instru¬ ment, der Wille hat die Leitung. Stellen ruhiger Betrachtung, hingebender Träumerei finden sich bei ihm fast nie. Die bessern deutschen Prosaiker aus Luther's Zeit haben diese Prosa nicht: es ist in ihrer Darstellung etwas Behagliches und Gelassenes, das selbst in der schärfsten Polemik nicht ganz aufhört; sie fühlen sich so unendlich reich an Bildern und Ideen, daß sie an eine künstlerische Ordnung derselben gar nicht denken; sie kommen ihnen ungesucht, und sie überlassen sich willig ihrem Spiele. Lessing's Vorzüge sind die nämlichen, welche die besten französischen Schriftsteller zeigen, die nämlichen, auf deren Kultur die französische Sprache seit Descartes und Pascal mit Bewußtsein und folgerichtig hingearbeitet hat. Les sing ist bei den Franzosen in die Schule gegangen, und alle bessern Schriftstellern unsrer Renaissance haben dasselbe gethan. Es ist interessant, bei Umarbeitungen Justus Möser's Verfahren mit dem Lessing's zu vergleichen: von beiden haben wir Proben. Lessing arbeitet seine Sätze immer pointirter heraus, während Möser sich gern schelmisch zu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/454>, abgerufen am 27.09.2024.