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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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macht sich zum Ohr des Ohrs, und wird des Auges Auge." Statt das Herz
zu rühren, fährt sie in einen Kritikus, "der, was die Sinne reizt, methodisch
mustern muß, und treibt durch Regeln, Grund, Kunstwörter, Lehrgebäude
aus Lust die Quintessenz, rektifizirt die Freude, und schafft, wo ihr Geschwätz
am schärfsten überführt, daß viel nur halb ergötzt, und vieles gar nicht rührt.
Das Fühlen wird verlernt, und nach erkiesten Gründen lernt auch ein Schü¬
ler schon des Meisters Fehler finden . . Vom Setzen, Malen lehrt auch das
kleinste Buch, wo nichts versehn, doch prahlen. Der Schwätzer hat den Ruhm,
dem Meister bleibt die Müh'. Das ist der Regeln Schuld, und darum labt'
ich sie. --Doch meinet mau vielleicht, daß sie dem Meister nützen? --Man irrt.--
-- Ein Geist, den die Natur zum Mustergeist beschloß, ist, was er ist, durch
sich, wird ohne Regeln groß. Er geht, so kühn er geht, auch ohne Weiser
sicher. Er Schöpfet aus sich selbst, er ist sich Schul' und Bücher. Was ihn
bewegt, bewegt; was ihm gefällt, gefällt: sein glücklicher Geschmack ist der
Geschmack der Welt."

Das ist nicht gerade die Stimmung eines von seinem Amt überzeugten
Kritikers. Er meinte wohl zum Theil die willkürlichen Regeln der Gottsched'-
schen Schule, und sah sich nach Grundsätzen um, die an deren Stelle treten
könnten. Eben hatte Ad. Schlegel Batteux' "Iss bsaux s.re8 rväuits S, r>,rr
unus xriullixs" übersetzt; Lessing fand den leitenden Grundsatz, die Poesie
für die Nachahmung der schönen Natur, "einfach genug, daß man ihn augen¬
blicklich entdecken könne, und weitläufig genug, daß sich alle die kleinen be¬
sondern Regeln darin verlieren, welche man blos vermittelst des Gefühls zu
kennen braucht, und deren Theorie zu nichts führt, als daß sie den Geist
fesselt, ohne ihn zu erleuchten."

Es war naturgemäß, daß die Franzosen die Aufmerksamkeit des jungen
Kritikers zumeist in Anspruch nahmen. Es regte sich gerade damals in der
französischen Literatur ein jngendfrisches Leben. Vor zwei Jahren hatte M o n-
tesquieu seinen "Geist der Gesetze", Buffon den ersten Band seiner "Natur¬
geschichte" veröffentlicht; eben erschien die "Encyclopädie", I. I. Rousseau
gab seine erste Schrift heraus. Mit allen Vorurtheilen wurde rüstig aufge¬
räumt, uicht am mindesten mit dem bisherigen akademischen Herkommen in
der Sprache.

"Die Franzosen", schreibt Diderot (38 I.) an Batteux, "haben dadurch,
daß sie alle Inversionen verwarfen, an Klarheit und Genauigkeit gewonnen
an Stärke und Nachdruck aber verloren. Die französische Sprache eignet sich
wegen der lehrhaften Ordnung, der sie unterworfen ist, besser zu deu exakten
Wissenschaften als die griechische, englische n. f. w.; diese aber können wegen


macht sich zum Ohr des Ohrs, und wird des Auges Auge." Statt das Herz
zu rühren, fährt sie in einen Kritikus, „der, was die Sinne reizt, methodisch
mustern muß, und treibt durch Regeln, Grund, Kunstwörter, Lehrgebäude
aus Lust die Quintessenz, rektifizirt die Freude, und schafft, wo ihr Geschwätz
am schärfsten überführt, daß viel nur halb ergötzt, und vieles gar nicht rührt.
Das Fühlen wird verlernt, und nach erkiesten Gründen lernt auch ein Schü¬
ler schon des Meisters Fehler finden . . Vom Setzen, Malen lehrt auch das
kleinste Buch, wo nichts versehn, doch prahlen. Der Schwätzer hat den Ruhm,
dem Meister bleibt die Müh'. Das ist der Regeln Schuld, und darum labt'
ich sie. —Doch meinet mau vielleicht, daß sie dem Meister nützen? —Man irrt.—
— Ein Geist, den die Natur zum Mustergeist beschloß, ist, was er ist, durch
sich, wird ohne Regeln groß. Er geht, so kühn er geht, auch ohne Weiser
sicher. Er Schöpfet aus sich selbst, er ist sich Schul' und Bücher. Was ihn
bewegt, bewegt; was ihm gefällt, gefällt: sein glücklicher Geschmack ist der
Geschmack der Welt."

Das ist nicht gerade die Stimmung eines von seinem Amt überzeugten
Kritikers. Er meinte wohl zum Theil die willkürlichen Regeln der Gottsched'-
schen Schule, und sah sich nach Grundsätzen um, die an deren Stelle treten
könnten. Eben hatte Ad. Schlegel Batteux' „Iss bsaux s.re8 rväuits S, r>,rr
unus xriullixs" übersetzt; Lessing fand den leitenden Grundsatz, die Poesie
für die Nachahmung der schönen Natur, „einfach genug, daß man ihn augen¬
blicklich entdecken könne, und weitläufig genug, daß sich alle die kleinen be¬
sondern Regeln darin verlieren, welche man blos vermittelst des Gefühls zu
kennen braucht, und deren Theorie zu nichts führt, als daß sie den Geist
fesselt, ohne ihn zu erleuchten."

Es war naturgemäß, daß die Franzosen die Aufmerksamkeit des jungen
Kritikers zumeist in Anspruch nahmen. Es regte sich gerade damals in der
französischen Literatur ein jngendfrisches Leben. Vor zwei Jahren hatte M o n-
tesquieu seinen „Geist der Gesetze", Buffon den ersten Band seiner „Natur¬
geschichte" veröffentlicht; eben erschien die „Encyclopädie", I. I. Rousseau
gab seine erste Schrift heraus. Mit allen Vorurtheilen wurde rüstig aufge¬
räumt, uicht am mindesten mit dem bisherigen akademischen Herkommen in
der Sprache.

„Die Franzosen", schreibt Diderot (38 I.) an Batteux, „haben dadurch,
daß sie alle Inversionen verwarfen, an Klarheit und Genauigkeit gewonnen
an Stärke und Nachdruck aber verloren. Die französische Sprache eignet sich
wegen der lehrhaften Ordnung, der sie unterworfen ist, besser zu deu exakten
Wissenschaften als die griechische, englische n. f. w.; diese aber können wegen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/453>, abgerufen am 20.10.2024.