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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Lessing arbeitete damals sehr schnell, jeder Stoff gestaltete sich unter sei¬
nen Händen leicht zu dramatischer Form; die Mache hatte er den Franzosen
abgesehn. Er hätte leicht ein fruchtbarer Lustspieldichter werdeu können, aber
es trieb ihn unwiderstehlich, sich nach allen Seiten auszubilden; er las sehr
viel und gründlich. Das bequemste schien, diese Lektüre sofort zu seinem Le¬
bensunterhalt zu verwerthen: in diesem Sinne übernahm er 1751 die Kritik
in der Vossischen Zeitung, und gab kurze, nicht gerade eingehende, aber zuwei¬
len sehr treffende Anzeigen von allen möglichen Büchern.

Unter den bekannten Schriftstellern Berlin's trat ihm zunächst Ramler
(26 I.) näher, sein Vorgänger im kritischen Geschäft, Gleim's Freund, Pro¬
fessor am Kadettenkorps. Der Zufall führte ihm eine weit erlauchtere Be¬
kanntschaft zu.

Voltaire hatte sich durch seine Habgier verleiten lassen, mit einem
Berliner Juden ein vom König wiederholt verbotenes Wuchergeschäft zu un¬
ternehmen, an das sich noch verschiedene andere Betrügereien knüpften. In
solchen Dingen verstand Friedrich keinen Scherz. "O'oft l'g.Mirs Ä'un trixon
<mi veut tromxör u,n tilon", schreibt er 22. Jan. 1751, als zwischen den bei¬
den Gesellen ein Prozeß ausgebrochen war, an seine Schwester: "it Q'östxÄ8
pMiuis Hii'nit, Kolluns as l'Wxrit Ah Voltaire so lÄsss rin Ä wäiMö alzus."
Voltaire wurde zwar freigesprochen, 21. Febr., nachdem er den Juden an¬
sehnlich entschädigt, und dann wieder in Sanssouci zugelassen; aber nur frei¬
gesprochen, "weil er ein noch größerer Schelm war als sein Gegner;" -- so
urtheilte Lessing.

Lessing hatte Gelegenheit, sich in der Sache ein selbständiges Urtheil
zu bilden, denn Voltaire's Sekretär ließ durch ihn die von seinem Herrn ver¬
faßte Klageschrift in's Deutsche übersetzen, und Lessing war Jebr. 1751 fast täglich
bei Voltaire zu Tisch.

Lessing fand, daß es mit dem Gerede über Kunst, wie es die Leipziger
und Züricher trieben, nicht gethan sei, daß es darauf ankäme, etwas zu
schaffen; und als Dichter ärgerte er sich über diese Kritiker, die unfähig waren,
echte Schöpfungen zu würdigen. Er fühlte sich damals als Dichter, nicht als
Kunstrichter; er fchrieb seine Gedichte nicht als Vorübungen für ein ästhetisches
System, seine kritischen Untersuchungen sollten ihm vielmehr sein poetisches
Geschäft klar machen.

"Die grübelnde Vernunft drängt sich in alles ein und will, wo sie nicht
herrscht, doch nicht entbehret sein. Ihr flucht der Orthodox, denn sie will sei¬
nem Glauben, der blinde Folger heischt, den alten Beifall rauben. Und
mich erzürnt sie oft, wenn sie der Schal' entwischt und, spitz'gen Tadel hold,
in unsre Lust sich mischt; gebietrisch schreibt sie vor, was unsern Sinnen tauge,


Lessing arbeitete damals sehr schnell, jeder Stoff gestaltete sich unter sei¬
nen Händen leicht zu dramatischer Form; die Mache hatte er den Franzosen
abgesehn. Er hätte leicht ein fruchtbarer Lustspieldichter werdeu können, aber
es trieb ihn unwiderstehlich, sich nach allen Seiten auszubilden; er las sehr
viel und gründlich. Das bequemste schien, diese Lektüre sofort zu seinem Le¬
bensunterhalt zu verwerthen: in diesem Sinne übernahm er 1751 die Kritik
in der Vossischen Zeitung, und gab kurze, nicht gerade eingehende, aber zuwei¬
len sehr treffende Anzeigen von allen möglichen Büchern.

Unter den bekannten Schriftstellern Berlin's trat ihm zunächst Ramler
(26 I.) näher, sein Vorgänger im kritischen Geschäft, Gleim's Freund, Pro¬
fessor am Kadettenkorps. Der Zufall führte ihm eine weit erlauchtere Be¬
kanntschaft zu.

Voltaire hatte sich durch seine Habgier verleiten lassen, mit einem
Berliner Juden ein vom König wiederholt verbotenes Wuchergeschäft zu un¬
ternehmen, an das sich noch verschiedene andere Betrügereien knüpften. In
solchen Dingen verstand Friedrich keinen Scherz. „O'oft l'g.Mirs Ä'un trixon
<mi veut tromxör u,n tilon", schreibt er 22. Jan. 1751, als zwischen den bei¬
den Gesellen ein Prozeß ausgebrochen war, an seine Schwester: „it Q'östxÄ8
pMiuis Hii'nit, Kolluns as l'Wxrit Ah Voltaire so lÄsss rin Ä wäiMö alzus."
Voltaire wurde zwar freigesprochen, 21. Febr., nachdem er den Juden an¬
sehnlich entschädigt, und dann wieder in Sanssouci zugelassen; aber nur frei¬
gesprochen, „weil er ein noch größerer Schelm war als sein Gegner;" — so
urtheilte Lessing.

Lessing hatte Gelegenheit, sich in der Sache ein selbständiges Urtheil
zu bilden, denn Voltaire's Sekretär ließ durch ihn die von seinem Herrn ver¬
faßte Klageschrift in's Deutsche übersetzen, und Lessing war Jebr. 1751 fast täglich
bei Voltaire zu Tisch.

Lessing fand, daß es mit dem Gerede über Kunst, wie es die Leipziger
und Züricher trieben, nicht gethan sei, daß es darauf ankäme, etwas zu
schaffen; und als Dichter ärgerte er sich über diese Kritiker, die unfähig waren,
echte Schöpfungen zu würdigen. Er fühlte sich damals als Dichter, nicht als
Kunstrichter; er fchrieb seine Gedichte nicht als Vorübungen für ein ästhetisches
System, seine kritischen Untersuchungen sollten ihm vielmehr sein poetisches
Geschäft klar machen.

„Die grübelnde Vernunft drängt sich in alles ein und will, wo sie nicht
herrscht, doch nicht entbehret sein. Ihr flucht der Orthodox, denn sie will sei¬
nem Glauben, der blinde Folger heischt, den alten Beifall rauben. Und
mich erzürnt sie oft, wenn sie der Schal' entwischt und, spitz'gen Tadel hold,
in unsre Lust sich mischt; gebietrisch schreibt sie vor, was unsern Sinnen tauge,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/452>, abgerufen am 20.10.2024.