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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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liebe Liebhaber Morosina's, sie werden Beide durch das "Engelsherz" geho¬
ben, gereinigt; sie verlassen die Bühne des Dichters verklärt und verschönert
durch den Abglanz der Tugend eines reinen Weibes. Was der größte deutsche
Dichter durch seine Iphigenie ausdrücken wollte: die siegende Macht der reinen
weiblichen Würde gegenüber dein barbarischen Ungestüm, wie gegenüber dem
Schuldbewußtsein eines vom Gottesfluch betroffenen Geschlechtes, hat Nievo
in seiner Weise, an einem ihm wie kaum einem Andern offen aufgeschlagenen
Blatte seiner vaterländischen Geschichte dargelegt.

Diese "Moral der Geschichte" ist gewiß das Höchste, was ein dreiund-
zwanzigjnhriger Italiener seinem Volke in jenen Tagen vorhalten konnte. Und
mit welch klarem Bewußtsein! Mit Händen zu greifen ist die Absicht des
Dichters, seine Feder zu sichren in demselben Sinne, wie er sein gutes Schwert
führte, zur Befreiung seines Vaterlandes von jahrhundertelangen Mißständen
und Verirrungen! In den Worten des sterbenden Formiani: "Glaube mir,
Verschwörungen und mystische Sekten nützen nichts, wenn die Gesellschaft in
ihrer heiligsten Grundlage, der Familie, wurmstichig geworden ist!" ist die
ganze mächtige Tendenz dieses Romans klar ausgeprägt. Das Venedig, wie
es Formiani kannte, gewann durchaus nicht an sittlicher Vollkommenheit, als
der weltfrvhe Inquisitor die Augen geschlossen hatte, und nachher Franzosen
und Oesterreichs abwechselnd sich in der Markusstadt tummelten, und dann
ein halbes Jahrhundert lang das Gift der Fremdherrschaft in die innersten
Adern des italienischen Volkes gedrungen war. Es gehörte die ganze Kraft
einer reinen Heldennatur dazu, um dem eigenen Volke zu sagen, wo die Quelle
des nationalen Elends sitze und wo man das Werk der Heilung anzusetzen
habe. Nievo sprach dieses Wort in seinem ersten Roman furchtlos aus: nicht
die gerade in Italien seit den Carbonari und dann wieder unter Leitung von
Mazzini so beliebten Geheimbünde und Verschwörungen vermöchten den natio¬
nalen Hoffnungen zum Siege zu verhelfen, sondern allein die Erneuerung und
Reinigung des durch das Cicisbeat, das Gasthofsleben u. a. berechtigte Eigen¬
thümlichkeiten vergifteten Familienlebens.

Vielleicht ist gerade der Ernst dieser Zurechtweisung der Landsleute
der Hauptgrund gewesen, warum dieses Werk des Dichters ohne Sang und
Klang der Vergessenheit anheimgefallen ist. In der großen Erregung bedeu¬
tender Tage läßt sich Jeder ein ernstes Mahnwort an sein Innerstes gern ge¬
fallen. Nachher aber trachten die Meisten, .den unbequemen Mahner so schnell
wie möglich los zu werden. Die andern modernen Novellisten Italiens ver¬
standen es ja auch soviel besser wie Nievo, deu leichten Gewohnheiten und
liebsten Schwächen der Nation zu schmeicheln; sie folgten dabei obendrein
noch den sublimen Pariser Vorbildern. Kein Wunder, daß da der herbe und


Grenzliotcn I. 1873. SS

liebe Liebhaber Morosina's, sie werden Beide durch das „Engelsherz" geho¬
ben, gereinigt; sie verlassen die Bühne des Dichters verklärt und verschönert
durch den Abglanz der Tugend eines reinen Weibes. Was der größte deutsche
Dichter durch seine Iphigenie ausdrücken wollte: die siegende Macht der reinen
weiblichen Würde gegenüber dein barbarischen Ungestüm, wie gegenüber dem
Schuldbewußtsein eines vom Gottesfluch betroffenen Geschlechtes, hat Nievo
in seiner Weise, an einem ihm wie kaum einem Andern offen aufgeschlagenen
Blatte seiner vaterländischen Geschichte dargelegt.

Diese „Moral der Geschichte" ist gewiß das Höchste, was ein dreiund-
zwanzigjnhriger Italiener seinem Volke in jenen Tagen vorhalten konnte. Und
mit welch klarem Bewußtsein! Mit Händen zu greifen ist die Absicht des
Dichters, seine Feder zu sichren in demselben Sinne, wie er sein gutes Schwert
führte, zur Befreiung seines Vaterlandes von jahrhundertelangen Mißständen
und Verirrungen! In den Worten des sterbenden Formiani: „Glaube mir,
Verschwörungen und mystische Sekten nützen nichts, wenn die Gesellschaft in
ihrer heiligsten Grundlage, der Familie, wurmstichig geworden ist!" ist die
ganze mächtige Tendenz dieses Romans klar ausgeprägt. Das Venedig, wie
es Formiani kannte, gewann durchaus nicht an sittlicher Vollkommenheit, als
der weltfrvhe Inquisitor die Augen geschlossen hatte, und nachher Franzosen
und Oesterreichs abwechselnd sich in der Markusstadt tummelten, und dann
ein halbes Jahrhundert lang das Gift der Fremdherrschaft in die innersten
Adern des italienischen Volkes gedrungen war. Es gehörte die ganze Kraft
einer reinen Heldennatur dazu, um dem eigenen Volke zu sagen, wo die Quelle
des nationalen Elends sitze und wo man das Werk der Heilung anzusetzen
habe. Nievo sprach dieses Wort in seinem ersten Roman furchtlos aus: nicht
die gerade in Italien seit den Carbonari und dann wieder unter Leitung von
Mazzini so beliebten Geheimbünde und Verschwörungen vermöchten den natio¬
nalen Hoffnungen zum Siege zu verhelfen, sondern allein die Erneuerung und
Reinigung des durch das Cicisbeat, das Gasthofsleben u. a. berechtigte Eigen¬
thümlichkeiten vergifteten Familienlebens.

Vielleicht ist gerade der Ernst dieser Zurechtweisung der Landsleute
der Hauptgrund gewesen, warum dieses Werk des Dichters ohne Sang und
Klang der Vergessenheit anheimgefallen ist. In der großen Erregung bedeu¬
tender Tage läßt sich Jeder ein ernstes Mahnwort an sein Innerstes gern ge¬
fallen. Nachher aber trachten die Meisten, .den unbequemen Mahner so schnell
wie möglich los zu werden. Die andern modernen Novellisten Italiens ver¬
standen es ja auch soviel besser wie Nievo, deu leichten Gewohnheiten und
liebsten Schwächen der Nation zu schmeicheln; sie folgten dabei obendrein
noch den sublimen Pariser Vorbildern. Kein Wunder, daß da der herbe und


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[0441] liebe Liebhaber Morosina's, sie werden Beide durch das „Engelsherz" geho¬ ben, gereinigt; sie verlassen die Bühne des Dichters verklärt und verschönert durch den Abglanz der Tugend eines reinen Weibes. Was der größte deutsche Dichter durch seine Iphigenie ausdrücken wollte: die siegende Macht der reinen weiblichen Würde gegenüber dein barbarischen Ungestüm, wie gegenüber dem Schuldbewußtsein eines vom Gottesfluch betroffenen Geschlechtes, hat Nievo in seiner Weise, an einem ihm wie kaum einem Andern offen aufgeschlagenen Blatte seiner vaterländischen Geschichte dargelegt. Diese „Moral der Geschichte" ist gewiß das Höchste, was ein dreiund- zwanzigjnhriger Italiener seinem Volke in jenen Tagen vorhalten konnte. Und mit welch klarem Bewußtsein! Mit Händen zu greifen ist die Absicht des Dichters, seine Feder zu sichren in demselben Sinne, wie er sein gutes Schwert führte, zur Befreiung seines Vaterlandes von jahrhundertelangen Mißständen und Verirrungen! In den Worten des sterbenden Formiani: „Glaube mir, Verschwörungen und mystische Sekten nützen nichts, wenn die Gesellschaft in ihrer heiligsten Grundlage, der Familie, wurmstichig geworden ist!" ist die ganze mächtige Tendenz dieses Romans klar ausgeprägt. Das Venedig, wie es Formiani kannte, gewann durchaus nicht an sittlicher Vollkommenheit, als der weltfrvhe Inquisitor die Augen geschlossen hatte, und nachher Franzosen und Oesterreichs abwechselnd sich in der Markusstadt tummelten, und dann ein halbes Jahrhundert lang das Gift der Fremdherrschaft in die innersten Adern des italienischen Volkes gedrungen war. Es gehörte die ganze Kraft einer reinen Heldennatur dazu, um dem eigenen Volke zu sagen, wo die Quelle des nationalen Elends sitze und wo man das Werk der Heilung anzusetzen habe. Nievo sprach dieses Wort in seinem ersten Roman furchtlos aus: nicht die gerade in Italien seit den Carbonari und dann wieder unter Leitung von Mazzini so beliebten Geheimbünde und Verschwörungen vermöchten den natio¬ nalen Hoffnungen zum Siege zu verhelfen, sondern allein die Erneuerung und Reinigung des durch das Cicisbeat, das Gasthofsleben u. a. berechtigte Eigen¬ thümlichkeiten vergifteten Familienlebens. Vielleicht ist gerade der Ernst dieser Zurechtweisung der Landsleute der Hauptgrund gewesen, warum dieses Werk des Dichters ohne Sang und Klang der Vergessenheit anheimgefallen ist. In der großen Erregung bedeu¬ tender Tage läßt sich Jeder ein ernstes Mahnwort an sein Innerstes gern ge¬ fallen. Nachher aber trachten die Meisten, .den unbequemen Mahner so schnell wie möglich los zu werden. Die andern modernen Novellisten Italiens ver¬ standen es ja auch soviel besser wie Nievo, deu leichten Gewohnheiten und liebsten Schwächen der Nation zu schmeicheln; sie folgten dabei obendrein noch den sublimen Pariser Vorbildern. Kein Wunder, daß da der herbe und Grenzliotcn I. 1873. SS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/441>, abgerufen am 27.09.2024.