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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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uns begnügen, die beiden hier gebotenen Romane Nievo's "Ein Engelsherz"
und die "Erinnerungen eines "Achtzigjährigen" genauer in Betracht zu ziehen,
um zu demselben Ergebniß zu gelangen.

"Ein Engelsherz" hat Nievo mit dreiundzwanzig Jahren geschrieben.
"Wir kennen in allen Literaturen kaum ein Beispiel eines merkwürdigern
Debüts ans diesem Gebiete", urtheilt Paul Heyse. "Wohl sind die Erstlings¬
werke unserer größten Genien an persönlicher Macht, Feuer der Leidenschaft,
hinreißender Gedankenfülle diesem Roman überlegen. Aber schwerlich wird
sich das Jugeudwerk irgend eines anderen Epikers an Klarheit, Reichthum und
glücklicher Gliederung der Komposition, an Schärfe und Reiz der Charakteristik,
sicherer Menschenkenntniß und vollendeter Beherrschung aller Kunstmittel mit
diesem Buche messen können. Nur ein geborener Erzähler konnte sich in sei¬
nem ersten größeren Versuch als ein so ausgereifter Meister zeigen. Er hatte
freilich eine Schule genossen, in der viel zu lernen war. Von Jugend auf
war Manzoni sein über Alles verehrtes Vorbild gewesen."

Wir pflichten Heyse bei, wenn er nun weiter nachzuweisen versucht, daß
Morvsina, die Heldin des Romans "Ein Engelsherz" insofern über der Heldin
der "Verlobten" von Manzoni stehe, als diese, getreu ihrem bäuerlichen Cha¬
rakter, mit "eintöniger Bravheit und Passivität" in den sie umfluthenden Er¬
eignissen steht, während Morvsina, die Heldin Nievo's, in eiuer grundverderbteu
Stadt und Zeit, mit Absicht und Berechnung ausgesetzt den schwersten Ver¬
suchungen einer heißblütigen Natur von dem, der am meisten auf ihre Würde
achten sollte, keineswegs in blöder Unwissenheit den Gefahren entgeht, die sie
umringen, ja mit Vorsatz ihr bereitet werden, sondern gerüstet und geadelt
durch ihren reinen weiblichen Sinn "vor dem Gemeinen sich mit stillem
Schauder zurückzieht." Schon in der unvermeidlichen Klostererziehung hat sie
die frivole Nichtigkeit und die weltliche Begehrlichkeit der Lehrerinnen und Ge¬
nossinnen vollauf durchschaut und kennen gelernt. Die sittliche Energie, mit
welcher sie dann, inmitten des Treibens einer grnndverdorbenen Aristokratie,
bei voller Freiheit ihrer Entschließungen und Neigungen, der Stimme der
strengen Pflicht und Ehrbarkeit folgt, statt ihren Herzenswünschen freien Lauf
zu lassen, diese Höhe des Standpunktes über Allen, die ihr nahe stehen, er¬
hebt sie wirklich zur Heldin ihrer Zeit, ihrer Umgebung. Diese sittliche
Hoheit läßt es nicht blos begreiflich, sondern natürlich erscheinen, daß Moro¬
sina auch die Schlacken, welche den Größten ihrer Tage anhaften, abstreift und
auch deren Wesen allmählig mit dem Adel der Seele erfüllt, die sie selbst
erhebt. Der mächtigste Staatsmann des alten Venedig, Formiani, vor dem
Hoch und Niedrig sich beugt, obwohl er keineswegs besser ist, als die Kinder
seiner Zeit; Cello, der frühverdorbene Jngendgespiele und spätere leidenschaft-


uns begnügen, die beiden hier gebotenen Romane Nievo's „Ein Engelsherz"
und die „Erinnerungen eines „Achtzigjährigen" genauer in Betracht zu ziehen,
um zu demselben Ergebniß zu gelangen.

„Ein Engelsherz" hat Nievo mit dreiundzwanzig Jahren geschrieben.
„Wir kennen in allen Literaturen kaum ein Beispiel eines merkwürdigern
Debüts ans diesem Gebiete", urtheilt Paul Heyse. „Wohl sind die Erstlings¬
werke unserer größten Genien an persönlicher Macht, Feuer der Leidenschaft,
hinreißender Gedankenfülle diesem Roman überlegen. Aber schwerlich wird
sich das Jugeudwerk irgend eines anderen Epikers an Klarheit, Reichthum und
glücklicher Gliederung der Komposition, an Schärfe und Reiz der Charakteristik,
sicherer Menschenkenntniß und vollendeter Beherrschung aller Kunstmittel mit
diesem Buche messen können. Nur ein geborener Erzähler konnte sich in sei¬
nem ersten größeren Versuch als ein so ausgereifter Meister zeigen. Er hatte
freilich eine Schule genossen, in der viel zu lernen war. Von Jugend auf
war Manzoni sein über Alles verehrtes Vorbild gewesen."

Wir pflichten Heyse bei, wenn er nun weiter nachzuweisen versucht, daß
Morvsina, die Heldin des Romans „Ein Engelsherz" insofern über der Heldin
der „Verlobten" von Manzoni stehe, als diese, getreu ihrem bäuerlichen Cha¬
rakter, mit „eintöniger Bravheit und Passivität" in den sie umfluthenden Er¬
eignissen steht, während Morvsina, die Heldin Nievo's, in eiuer grundverderbteu
Stadt und Zeit, mit Absicht und Berechnung ausgesetzt den schwersten Ver¬
suchungen einer heißblütigen Natur von dem, der am meisten auf ihre Würde
achten sollte, keineswegs in blöder Unwissenheit den Gefahren entgeht, die sie
umringen, ja mit Vorsatz ihr bereitet werden, sondern gerüstet und geadelt
durch ihren reinen weiblichen Sinn „vor dem Gemeinen sich mit stillem
Schauder zurückzieht." Schon in der unvermeidlichen Klostererziehung hat sie
die frivole Nichtigkeit und die weltliche Begehrlichkeit der Lehrerinnen und Ge¬
nossinnen vollauf durchschaut und kennen gelernt. Die sittliche Energie, mit
welcher sie dann, inmitten des Treibens einer grnndverdorbenen Aristokratie,
bei voller Freiheit ihrer Entschließungen und Neigungen, der Stimme der
strengen Pflicht und Ehrbarkeit folgt, statt ihren Herzenswünschen freien Lauf
zu lassen, diese Höhe des Standpunktes über Allen, die ihr nahe stehen, er¬
hebt sie wirklich zur Heldin ihrer Zeit, ihrer Umgebung. Diese sittliche
Hoheit läßt es nicht blos begreiflich, sondern natürlich erscheinen, daß Moro¬
sina auch die Schlacken, welche den Größten ihrer Tage anhaften, abstreift und
auch deren Wesen allmählig mit dem Adel der Seele erfüllt, die sie selbst
erhebt. Der mächtigste Staatsmann des alten Venedig, Formiani, vor dem
Hoch und Niedrig sich beugt, obwohl er keineswegs besser ist, als die Kinder
seiner Zeit; Cello, der frühverdorbene Jngendgespiele und spätere leidenschaft-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/440>, abgerufen am 27.09.2024.