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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Alle Einsichtigen erkannten die von Norden drohende Gefahr, die einen, um
sich einzugestehen, daß Hellas nicht mehr im Staude sei, sie abzuwenden, die
anderen, um mit begeisterten Prophetenworten zum Widerstande zu entflammen.
-- Sehr treffend bemerkte Jsokrates: "Wir rühmen uns der Thaten unserer
Vorfahren und thun doch das Gegentheil von dem, was jene thaten. Sie
trugen kein Bedenken, für das Wohl der Hellenen ihr Vaterland zu verlassen,
und schlugen die Barbaren zu Wasser und zu Lande; wir dagegen begehren
zwar über alle zu herrschen, wollen aber nicht die Waffen führen. Wir unt"r-
uehmen zwar wider alle Menschen Krieg, rüsten jedoch nicht uns selbst, sondern
Leute ohne Vaterland und Ehre, die, wenn man ihnen irgendwo größeren
Sold böte, die Waffen gegen uns kehren würden.""') Darum verlangte der
entschiedenste, aber auch leidenschaftlichste und ungerechteste Geguer des Phi¬
lippos, der attische Redner Demosthenes, bei den Unternehmungen des Königs
gegen das von Athen beschützte Olynth, daß man angesichts der Gefahr, welche
von Makedonien drohe, nicht blos zuchtlose Söldner äusserte, sondern Bürger,
auf welche Verlaß sei. Wirklich sollten 2000 Bürger und 300 Reiter auf¬
brechen; aber diesen war es gar zu unbehaglich, das genußreiche Athen mit
dem Feldlager zu vertauschen, und während der hieraus entspringenden Zöge¬
rungen fiel Olynthos.

Männer von geringerem lokalpatriotischen Pathos doch von größerem
staatsmännischen Scharfblick als Demosthenes hegten die Meinung, daß die
aus der sozialen Zerrüttung von Hellas entspringenden Gefahren, zumal die¬
jenigen, welche die Masse der heimathloser Flüchtlinge und der vagirenden
Söldner mit sich brächten, weit schlimmer seien als die der makedonischer
Hegemonie. Jsokrates schlug dem Philippos vor, an der kleinasiatischen Küste
des Hellesponts und des Pontus Städte zu erbanen, um die streifenden Ver¬
bannten anzusiedeln. "Wenn wir sie nicht hindern, sich zusammenzurollen, in-
dem wir ihnen Unterhalt verschaffen, so werden sie zu solcher Meuge anwachsen,
daß sie den Hellenen nicht weniger furchtbar werden als den Barbaren."

Mit den Streitkräften Athens sah es mißlich aus. Wohl lagen
in seinen Schiffshäuscrn mehr als 350 Trierer, noch immer die stattlichste
Seemacht Griechenlands. Aber wenn man sie bemannen, wenn man ein Heer
n's Feld stellen wollte, so mußte man immer zu jenen Söldnern greifen, die
der Schrecken mehr der Freunde als der Feinde waren. Plutarch berichtet,
daß beim Heransegeln attischer Flotten jener Zeit die Bundesgenossen Mauern
und Häfen bewehrt und Weiber, Kinder, Sklaven und Heerden vom Lande in
die Städte geschafft hätten. -- Es war ein Irrthum des Demosthenes, wenn



*) Vom Frieden,.' 16,. 17.

Alle Einsichtigen erkannten die von Norden drohende Gefahr, die einen, um
sich einzugestehen, daß Hellas nicht mehr im Staude sei, sie abzuwenden, die
anderen, um mit begeisterten Prophetenworten zum Widerstande zu entflammen.
— Sehr treffend bemerkte Jsokrates: „Wir rühmen uns der Thaten unserer
Vorfahren und thun doch das Gegentheil von dem, was jene thaten. Sie
trugen kein Bedenken, für das Wohl der Hellenen ihr Vaterland zu verlassen,
und schlugen die Barbaren zu Wasser und zu Lande; wir dagegen begehren
zwar über alle zu herrschen, wollen aber nicht die Waffen führen. Wir unt«r-
uehmen zwar wider alle Menschen Krieg, rüsten jedoch nicht uns selbst, sondern
Leute ohne Vaterland und Ehre, die, wenn man ihnen irgendwo größeren
Sold böte, die Waffen gegen uns kehren würden.""') Darum verlangte der
entschiedenste, aber auch leidenschaftlichste und ungerechteste Geguer des Phi¬
lippos, der attische Redner Demosthenes, bei den Unternehmungen des Königs
gegen das von Athen beschützte Olynth, daß man angesichts der Gefahr, welche
von Makedonien drohe, nicht blos zuchtlose Söldner äusserte, sondern Bürger,
auf welche Verlaß sei. Wirklich sollten 2000 Bürger und 300 Reiter auf¬
brechen; aber diesen war es gar zu unbehaglich, das genußreiche Athen mit
dem Feldlager zu vertauschen, und während der hieraus entspringenden Zöge¬
rungen fiel Olynthos.

Männer von geringerem lokalpatriotischen Pathos doch von größerem
staatsmännischen Scharfblick als Demosthenes hegten die Meinung, daß die
aus der sozialen Zerrüttung von Hellas entspringenden Gefahren, zumal die¬
jenigen, welche die Masse der heimathloser Flüchtlinge und der vagirenden
Söldner mit sich brächten, weit schlimmer seien als die der makedonischer
Hegemonie. Jsokrates schlug dem Philippos vor, an der kleinasiatischen Küste
des Hellesponts und des Pontus Städte zu erbanen, um die streifenden Ver¬
bannten anzusiedeln. „Wenn wir sie nicht hindern, sich zusammenzurollen, in-
dem wir ihnen Unterhalt verschaffen, so werden sie zu solcher Meuge anwachsen,
daß sie den Hellenen nicht weniger furchtbar werden als den Barbaren."

Mit den Streitkräften Athens sah es mißlich aus. Wohl lagen
in seinen Schiffshäuscrn mehr als 350 Trierer, noch immer die stattlichste
Seemacht Griechenlands. Aber wenn man sie bemannen, wenn man ein Heer
n's Feld stellen wollte, so mußte man immer zu jenen Söldnern greifen, die
der Schrecken mehr der Freunde als der Feinde waren. Plutarch berichtet,
daß beim Heransegeln attischer Flotten jener Zeit die Bundesgenossen Mauern
und Häfen bewehrt und Weiber, Kinder, Sklaven und Heerden vom Lande in
die Städte geschafft hätten. — Es war ein Irrthum des Demosthenes, wenn



*) Vom Frieden,.' 16,. 17.
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[0430] Alle Einsichtigen erkannten die von Norden drohende Gefahr, die einen, um sich einzugestehen, daß Hellas nicht mehr im Staude sei, sie abzuwenden, die anderen, um mit begeisterten Prophetenworten zum Widerstande zu entflammen. — Sehr treffend bemerkte Jsokrates: „Wir rühmen uns der Thaten unserer Vorfahren und thun doch das Gegentheil von dem, was jene thaten. Sie trugen kein Bedenken, für das Wohl der Hellenen ihr Vaterland zu verlassen, und schlugen die Barbaren zu Wasser und zu Lande; wir dagegen begehren zwar über alle zu herrschen, wollen aber nicht die Waffen führen. Wir unt«r- uehmen zwar wider alle Menschen Krieg, rüsten jedoch nicht uns selbst, sondern Leute ohne Vaterland und Ehre, die, wenn man ihnen irgendwo größeren Sold böte, die Waffen gegen uns kehren würden.""') Darum verlangte der entschiedenste, aber auch leidenschaftlichste und ungerechteste Geguer des Phi¬ lippos, der attische Redner Demosthenes, bei den Unternehmungen des Königs gegen das von Athen beschützte Olynth, daß man angesichts der Gefahr, welche von Makedonien drohe, nicht blos zuchtlose Söldner äusserte, sondern Bürger, auf welche Verlaß sei. Wirklich sollten 2000 Bürger und 300 Reiter auf¬ brechen; aber diesen war es gar zu unbehaglich, das genußreiche Athen mit dem Feldlager zu vertauschen, und während der hieraus entspringenden Zöge¬ rungen fiel Olynthos. Männer von geringerem lokalpatriotischen Pathos doch von größerem staatsmännischen Scharfblick als Demosthenes hegten die Meinung, daß die aus der sozialen Zerrüttung von Hellas entspringenden Gefahren, zumal die¬ jenigen, welche die Masse der heimathloser Flüchtlinge und der vagirenden Söldner mit sich brächten, weit schlimmer seien als die der makedonischer Hegemonie. Jsokrates schlug dem Philippos vor, an der kleinasiatischen Küste des Hellesponts und des Pontus Städte zu erbanen, um die streifenden Ver¬ bannten anzusiedeln. „Wenn wir sie nicht hindern, sich zusammenzurollen, in- dem wir ihnen Unterhalt verschaffen, so werden sie zu solcher Meuge anwachsen, daß sie den Hellenen nicht weniger furchtbar werden als den Barbaren." Mit den Streitkräften Athens sah es mißlich aus. Wohl lagen in seinen Schiffshäuscrn mehr als 350 Trierer, noch immer die stattlichste Seemacht Griechenlands. Aber wenn man sie bemannen, wenn man ein Heer n's Feld stellen wollte, so mußte man immer zu jenen Söldnern greifen, die der Schrecken mehr der Freunde als der Feinde waren. Plutarch berichtet, daß beim Heransegeln attischer Flotten jener Zeit die Bundesgenossen Mauern und Häfen bewehrt und Weiber, Kinder, Sklaven und Heerden vom Lande in die Städte geschafft hätten. — Es war ein Irrthum des Demosthenes, wenn *) Vom Frieden,.' 16,. 17.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/430>, abgerufen am 20.10.2024.