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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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allmächtigen Gott, der nur zum Schein leidet. Dadurch werden alle Verhält¬
nisse, in denen wir ihm begegnen, verschroben, unnatürlich und unfähig, Mit¬
leid zu erregen.

Wenn Maria ausruft: "Wenn sein gnädiges Antlitz anf seine Mutter noch
einmal würdigt herabzulücheln, so will ich zitternd es wagen, zu seinen gött¬
lichen Füßen -- es hat ja begnadigt Magdalena zu seinen Füßen geweint! --
da will ich es wagen, zitternd mich niederzuwerfen" u. s. w.: -- so empfindet
mau das als eine Beeinträchtigung der Mutterwürde. Mutter bleibt Mutter!
einerlei, wie sie das Kind empfangen hat. Um wieviel menschlicher ist die
Madonna der katholischen Kirche! Die Verletzung des Naturgesetzes rächt sich
auch ästhetisch.

Noch schlimmer wird es, wenn das Leiden des Gottmenschen geschildert
werden soll. Der Allmächtige, der mit seinem Wink Legionen von Engeln
gebietet, kann nicht jammernd ausrufen: "ist es möglich, so gehe dieser Kelch
vorüber." Er sieht die zahllose Dienerschaft, seines Wirth gewärtig, und doch
ruft er aus: "mein Gott, warum hast du mich verlassen!" -- Ist das wohl
denkbar? In der Dogmatik kann man dem grübelnden Verstand allerlei auf¬
bürden, aber die Sinne trügen nicht, und keiner Lyrik wird es gelingen
der Anschauung hölzernes Eisen weiszumachen. -- Wie können wir Theil¬
nahme und Mitleid einem Helden schenken, der nur zum Schein leidet! Nur
mit äußerster Mühe kaun er seine Allmacht verstecken. Als man ihn fängt
"mit göttlicher Ruh', als wenn er dem Wurm zu sterbe", oder dem kommenden
Meer, vor ihm zu schweigen gehste, sprach er zur Schaar: Ich bin's! -- Sie
ergriff des Sohnes Allmacht, und sie sanken betäubt von seiner Stimme dar¬
nieder." -- Und bei seinem Verhör: "alle Hoheit, sogar die Hoheit des sterb¬
lichen Weisen legte er ab, und war nur ruhig, als sah' er den Abfall einer
Quelle vor sich und dächte nur sanfte Gedanke nach erhabner" an Gott, die
Augenblicke zu ruhen. Wenige leise Züge nur behielt er vou seinem göttlichen
Ernst: doch konnte sie kein Engel haben; allein auch nur ein Engel vermochte
dieser Göttlichkeit Mienen und ihren Geist zu bemerken." -- Was ist das
alles für eine Komödie! -- Wenn in die kleinste Bewegung etwas Bedeutendes
gelegt werden soll, so macht auch die größte keinen Eindruck mehr.

Da auf Erden nicht viel vorgeht, so hat der Dichter den Haupttheil seiner
Geschichte in den Himmel und die Hölle verlegt. Die Thatsache des Opfers
ist nur die Erfüllung eines großen Plans der Gottheit; dieser Plan ist der
Mittelpunkt des Gedichts, er soll in seinem ganzen mystischen Gehalt empfunden
werden. Da dieser Plan der Erlösung dem gewöhnlichen Verstand nicht zu¬
gänglich ist, so konnte hier der dichterische Seher das religiöse Gefühl wirklich
bereichern.


allmächtigen Gott, der nur zum Schein leidet. Dadurch werden alle Verhält¬
nisse, in denen wir ihm begegnen, verschroben, unnatürlich und unfähig, Mit¬
leid zu erregen.

Wenn Maria ausruft: „Wenn sein gnädiges Antlitz anf seine Mutter noch
einmal würdigt herabzulücheln, so will ich zitternd es wagen, zu seinen gött¬
lichen Füßen — es hat ja begnadigt Magdalena zu seinen Füßen geweint! —
da will ich es wagen, zitternd mich niederzuwerfen" u. s. w.: — so empfindet
mau das als eine Beeinträchtigung der Mutterwürde. Mutter bleibt Mutter!
einerlei, wie sie das Kind empfangen hat. Um wieviel menschlicher ist die
Madonna der katholischen Kirche! Die Verletzung des Naturgesetzes rächt sich
auch ästhetisch.

Noch schlimmer wird es, wenn das Leiden des Gottmenschen geschildert
werden soll. Der Allmächtige, der mit seinem Wink Legionen von Engeln
gebietet, kann nicht jammernd ausrufen: „ist es möglich, so gehe dieser Kelch
vorüber." Er sieht die zahllose Dienerschaft, seines Wirth gewärtig, und doch
ruft er aus: „mein Gott, warum hast du mich verlassen!" — Ist das wohl
denkbar? In der Dogmatik kann man dem grübelnden Verstand allerlei auf¬
bürden, aber die Sinne trügen nicht, und keiner Lyrik wird es gelingen
der Anschauung hölzernes Eisen weiszumachen. — Wie können wir Theil¬
nahme und Mitleid einem Helden schenken, der nur zum Schein leidet! Nur
mit äußerster Mühe kaun er seine Allmacht verstecken. Als man ihn fängt
„mit göttlicher Ruh', als wenn er dem Wurm zu sterbe», oder dem kommenden
Meer, vor ihm zu schweigen gehste, sprach er zur Schaar: Ich bin's! — Sie
ergriff des Sohnes Allmacht, und sie sanken betäubt von seiner Stimme dar¬
nieder." — Und bei seinem Verhör: „alle Hoheit, sogar die Hoheit des sterb¬
lichen Weisen legte er ab, und war nur ruhig, als sah' er den Abfall einer
Quelle vor sich und dächte nur sanfte Gedanke nach erhabner» an Gott, die
Augenblicke zu ruhen. Wenige leise Züge nur behielt er vou seinem göttlichen
Ernst: doch konnte sie kein Engel haben; allein auch nur ein Engel vermochte
dieser Göttlichkeit Mienen und ihren Geist zu bemerken." — Was ist das
alles für eine Komödie! — Wenn in die kleinste Bewegung etwas Bedeutendes
gelegt werden soll, so macht auch die größte keinen Eindruck mehr.

Da auf Erden nicht viel vorgeht, so hat der Dichter den Haupttheil seiner
Geschichte in den Himmel und die Hölle verlegt. Die Thatsache des Opfers
ist nur die Erfüllung eines großen Plans der Gottheit; dieser Plan ist der
Mittelpunkt des Gedichts, er soll in seinem ganzen mystischen Gehalt empfunden
werden. Da dieser Plan der Erlösung dem gewöhnlichen Verstand nicht zu¬
gänglich ist, so konnte hier der dichterische Seher das religiöse Gefühl wirklich
bereichern.


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[0375] allmächtigen Gott, der nur zum Schein leidet. Dadurch werden alle Verhält¬ nisse, in denen wir ihm begegnen, verschroben, unnatürlich und unfähig, Mit¬ leid zu erregen. Wenn Maria ausruft: „Wenn sein gnädiges Antlitz anf seine Mutter noch einmal würdigt herabzulücheln, so will ich zitternd es wagen, zu seinen gött¬ lichen Füßen — es hat ja begnadigt Magdalena zu seinen Füßen geweint! — da will ich es wagen, zitternd mich niederzuwerfen" u. s. w.: — so empfindet mau das als eine Beeinträchtigung der Mutterwürde. Mutter bleibt Mutter! einerlei, wie sie das Kind empfangen hat. Um wieviel menschlicher ist die Madonna der katholischen Kirche! Die Verletzung des Naturgesetzes rächt sich auch ästhetisch. Noch schlimmer wird es, wenn das Leiden des Gottmenschen geschildert werden soll. Der Allmächtige, der mit seinem Wink Legionen von Engeln gebietet, kann nicht jammernd ausrufen: „ist es möglich, so gehe dieser Kelch vorüber." Er sieht die zahllose Dienerschaft, seines Wirth gewärtig, und doch ruft er aus: „mein Gott, warum hast du mich verlassen!" — Ist das wohl denkbar? In der Dogmatik kann man dem grübelnden Verstand allerlei auf¬ bürden, aber die Sinne trügen nicht, und keiner Lyrik wird es gelingen der Anschauung hölzernes Eisen weiszumachen. — Wie können wir Theil¬ nahme und Mitleid einem Helden schenken, der nur zum Schein leidet! Nur mit äußerster Mühe kaun er seine Allmacht verstecken. Als man ihn fängt „mit göttlicher Ruh', als wenn er dem Wurm zu sterbe», oder dem kommenden Meer, vor ihm zu schweigen gehste, sprach er zur Schaar: Ich bin's! — Sie ergriff des Sohnes Allmacht, und sie sanken betäubt von seiner Stimme dar¬ nieder." — Und bei seinem Verhör: „alle Hoheit, sogar die Hoheit des sterb¬ lichen Weisen legte er ab, und war nur ruhig, als sah' er den Abfall einer Quelle vor sich und dächte nur sanfte Gedanke nach erhabner» an Gott, die Augenblicke zu ruhen. Wenige leise Züge nur behielt er vou seinem göttlichen Ernst: doch konnte sie kein Engel haben; allein auch nur ein Engel vermochte dieser Göttlichkeit Mienen und ihren Geist zu bemerken." — Was ist das alles für eine Komödie! — Wenn in die kleinste Bewegung etwas Bedeutendes gelegt werden soll, so macht auch die größte keinen Eindruck mehr. Da auf Erden nicht viel vorgeht, so hat der Dichter den Haupttheil seiner Geschichte in den Himmel und die Hölle verlegt. Die Thatsache des Opfers ist nur die Erfüllung eines großen Plans der Gottheit; dieser Plan ist der Mittelpunkt des Gedichts, er soll in seinem ganzen mystischen Gehalt empfunden werden. Da dieser Plan der Erlösung dem gewöhnlichen Verstand nicht zu¬ gänglich ist, so konnte hier der dichterische Seher das religiöse Gefühl wirklich bereichern.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/375>, abgerufen am 27.09.2024.