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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Wollte er nicht zu seinem früheren Meister zurückkehren und beim Handwerk
verbleiben, so mußte er aufs Neue Einschreibegebühren und Lehrgeld zahlen,
sowie seine Lehrzeit von vorne wieder anfangen. Bei einem zweiten Kontrakt¬
bruche verscherzte er die Aufnahme ins Handwerk für immer. Weit milder
urtheilte die Zunftgesetzgebung, wenn die Schuld auf der Seite des Meisters
lag. Dann durfte der Knabe seine Lehrzeit bei einem andern Meister voll¬
enden und sein früherer Lehrherr konnte keinen Anspruch auf deu noch etwa
ausstehenden Theil des Lehrgeldes erheben. War dasselbe schon ganz entrichtet,
so hatte die Behörde z. B. nach der Kühler- (Küfer) Ordnung Württembergs
vom Jahre 1606 die richterliche Entscheidung zu fällen.

Bei denjenigen Gewerben, in welchen, wie z. B. bei den Maurern und
Zimmerern, die Entrichtung eines Lehrgeldes nicht üblich war, erhob der
Meister von dem Vater oder dem Vormunde des Lehrlings eine Kaution, die
erst nach beendigter Lehrzeit zur Auszahlung gelangte und deren die Bürgen
verlustig gingen, sobald der Lehrling sich Veruntreuungen von Materialien zu
Schulden kommen ließ oder muthwillig aus der Lehre lief.

Wie man sieht, beschäftigten sich die Zunftstatuten bis in die kleinsten
Details hinein mit dem Lehrlingswesen; aber unterwirft man alle diese Vor¬
schriften einer näheren Untersuchung, so wird man finden, daß dieselben we¬
niger zum Schutze des Lehrlings dienten, als vielmehr im selbstsüchtigen In¬
teresse der Meistercorporationen erlassen waren. Der Lehrling sah sich ziem¬
lich rechtlos in die Hände seines Lehrherrn gegeben. Diesem war die Arbeits¬
kraft des jungen Menschen für einige Jahre zur Verfügung gestellt mit der
Bedingung, daß er seinem Zögling die ihm zum Betriebe seines Gewerbes
nöthige Kenntniß beibringe. Aber erfüllte der Meister diese Pflicht, erkannte
er die tiefere moralische Verantwortlichkeit seines Lehramts? Die Antwort
hierauf lautet in den meisten Fällen Nein! Wohl schrieben die Zunftordnungen
dem Meister seine Pflichten gegen den Lehrling sehr genau vor. Laut der
württemberger Schneiderordnuug von 1685 sollte der Meister "den Jungen zu¬
vörderst erstlich zur Verrichtung des Gebets, wie auch zum fleißigen Kirchen¬
gehen anhalten und nächst diesem zur Erlernung des Handwerkes und nicht
zum täglichen Hcmsposseln und Geschäft, als Holz-, Wasser- und Kindertragen
u. tgi. gebrauchen; ihn mit nothdürftiger Speis und Trank und ordentlicher
Liegenschaft versehen, nicht aber ihn mit grausamen Schlägen und Stößen,
wie es öfters ganz unchristlicher Weise zu gehen pflege, traktiren; jedoch bleibe
dem Meister eine erträgliche Züchtigung unverwehret." Nur schade, daß diese
Gesetzesstelle gleich ähnlichen in der hessischen Konstitution von 1693 und der
brandenburger Polizeiordnung von 1688 erhaltenen Bestimmungen gewöhnlich
nicht befolgt wurden. Den größten Theil seiner Lehrzeit verbrachte der junge


Wollte er nicht zu seinem früheren Meister zurückkehren und beim Handwerk
verbleiben, so mußte er aufs Neue Einschreibegebühren und Lehrgeld zahlen,
sowie seine Lehrzeit von vorne wieder anfangen. Bei einem zweiten Kontrakt¬
bruche verscherzte er die Aufnahme ins Handwerk für immer. Weit milder
urtheilte die Zunftgesetzgebung, wenn die Schuld auf der Seite des Meisters
lag. Dann durfte der Knabe seine Lehrzeit bei einem andern Meister voll¬
enden und sein früherer Lehrherr konnte keinen Anspruch auf deu noch etwa
ausstehenden Theil des Lehrgeldes erheben. War dasselbe schon ganz entrichtet,
so hatte die Behörde z. B. nach der Kühler- (Küfer) Ordnung Württembergs
vom Jahre 1606 die richterliche Entscheidung zu fällen.

Bei denjenigen Gewerben, in welchen, wie z. B. bei den Maurern und
Zimmerern, die Entrichtung eines Lehrgeldes nicht üblich war, erhob der
Meister von dem Vater oder dem Vormunde des Lehrlings eine Kaution, die
erst nach beendigter Lehrzeit zur Auszahlung gelangte und deren die Bürgen
verlustig gingen, sobald der Lehrling sich Veruntreuungen von Materialien zu
Schulden kommen ließ oder muthwillig aus der Lehre lief.

Wie man sieht, beschäftigten sich die Zunftstatuten bis in die kleinsten
Details hinein mit dem Lehrlingswesen; aber unterwirft man alle diese Vor¬
schriften einer näheren Untersuchung, so wird man finden, daß dieselben we¬
niger zum Schutze des Lehrlings dienten, als vielmehr im selbstsüchtigen In¬
teresse der Meistercorporationen erlassen waren. Der Lehrling sah sich ziem¬
lich rechtlos in die Hände seines Lehrherrn gegeben. Diesem war die Arbeits¬
kraft des jungen Menschen für einige Jahre zur Verfügung gestellt mit der
Bedingung, daß er seinem Zögling die ihm zum Betriebe seines Gewerbes
nöthige Kenntniß beibringe. Aber erfüllte der Meister diese Pflicht, erkannte
er die tiefere moralische Verantwortlichkeit seines Lehramts? Die Antwort
hierauf lautet in den meisten Fällen Nein! Wohl schrieben die Zunftordnungen
dem Meister seine Pflichten gegen den Lehrling sehr genau vor. Laut der
württemberger Schneiderordnuug von 1685 sollte der Meister „den Jungen zu¬
vörderst erstlich zur Verrichtung des Gebets, wie auch zum fleißigen Kirchen¬
gehen anhalten und nächst diesem zur Erlernung des Handwerkes und nicht
zum täglichen Hcmsposseln und Geschäft, als Holz-, Wasser- und Kindertragen
u. tgi. gebrauchen; ihn mit nothdürftiger Speis und Trank und ordentlicher
Liegenschaft versehen, nicht aber ihn mit grausamen Schlägen und Stößen,
wie es öfters ganz unchristlicher Weise zu gehen pflege, traktiren; jedoch bleibe
dem Meister eine erträgliche Züchtigung unverwehret." Nur schade, daß diese
Gesetzesstelle gleich ähnlichen in der hessischen Konstitution von 1693 und der
brandenburger Polizeiordnung von 1688 erhaltenen Bestimmungen gewöhnlich
nicht befolgt wurden. Den größten Theil seiner Lehrzeit verbrachte der junge


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/350>, abgerufen am 27.09.2024.