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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Gang, der eine obere Brustwehr gebildet hat. In diesem Erdkörper wurden
allmälig fünf schachtartige, 8 bis 9 Meter tiefe Gruben, welche bis auf das
Niveau des Burgfelsens herabreichen, entdeckt." Diese fünf Gruben sind die
"Königsgräber", in welchen Schliemann die vermeintlichen Reste Agamenmons
und seiner Gefährten fand. Adler folgerte aus den lückenhaften Berichten, die
ihm damals vorlagen, vorsichtiger Weise nur zwei Thatsachen: 1) daß hier
eine gemeinsame Begräbnißstätte, vielleicht die kleine Nekropolis einer ebenso
reichen wie prunkliebenden Dynastie entdeckt worden ist und 2) daß dieselbe
ursprünglich vor der Burgmauer gelegen hat. Dieser zweite Punkt,
dessen Richtigkeit die genaue Schliemannsche Publikation unzweifelhaft erwiesen
hat, ist für uns der wichtigste. Er stößt nämlich die oben mitgetheilte Inter¬
pretation der Pausaniasstelle dnrch Schliemann und somit seine ganze Hypo¬
these über die Auffindung der Grabstätte Agamenmons über den Haufen. Die
Gräberanlage wurde erst bei einer später vorgenommenen Erweiterung der
Burg in den Befestigungsring hineingezogen und das Löwenthor zum Haupt¬
thor der ganzen Burganlage. In Folge der bekannten Scheu des Alterthums
vor der Gräberverletzung wurde die Grabstätte bei der Burgerweiterung nicht
nur geschont, sondern mit der neuen Mauer sorgfältig umgangen. Daraus
folgt zugleich, daß die Grabstätte älter sein muß als das Löwenthor.

War das die erste Umgestaltung, welche sich der Vorsprung der Akropolis,
ans welchem Schliemann die Gräber entdeckte, gefallen lassen mußte, so war
die zweite noch viel durchgreifender und weniger pietätvoll. Es muß eine
Zeit der höchsten Noth gewesen sein, als man sich entschloß, die Grabstätte
der Ahnherren durch aufgefahrenen Schutt zu erhöhen, die Gräber also zu
verschütten und hinter der ringförmigen Mauer aus aufrechtstehenden Platten
einen Wehrgang zu errichten, von welchem die Vertheidiger eine leichte Umschau
halten und die durch das Löwenthor anrückenden Feinde wirksam beschießen
konnten- Adler glaubt, daß diese Zeit der höchsten Noth erst eingetreten sei
kurz bevor die Argiver ihren Rachezug gegen Mykenae unternahmen, der im
Jahre 468 mit der Eroberung und Zerstörung des alten Königssitzes endigte.
Die Argiver hegten von Alters her einen Groll gegen die Mykenäer. Diese waren
allein von den Bewohnern der Argolis den Lcckedämoniern bei Thermopylae
zu Hülfe gekommen, während sich Argos aus kleinlichen Eifersuchtsgrttnden
ausdrücklich geweigert hatte. Die Argiver verlangten ferner von den Myke-
näern, daß die Leitung der nemeischen Spiele ihnen allein überlassen werden
sollte. Endlich entstanden noch zwischen den beiden rivalisirenden Städten
Streitigkeiten über den Kultus der Hera. Diese Streitigkeiten mögen lange
genug gedauert haben, sodaß sich die Mykenäer gegen alle Eventualitäten wohl
vorsehen konnten. Sie hatten also Zeit, sich durch Erweiterung und Verstcir-


Gang, der eine obere Brustwehr gebildet hat. In diesem Erdkörper wurden
allmälig fünf schachtartige, 8 bis 9 Meter tiefe Gruben, welche bis auf das
Niveau des Burgfelsens herabreichen, entdeckt." Diese fünf Gruben sind die
„Königsgräber", in welchen Schliemann die vermeintlichen Reste Agamenmons
und seiner Gefährten fand. Adler folgerte aus den lückenhaften Berichten, die
ihm damals vorlagen, vorsichtiger Weise nur zwei Thatsachen: 1) daß hier
eine gemeinsame Begräbnißstätte, vielleicht die kleine Nekropolis einer ebenso
reichen wie prunkliebenden Dynastie entdeckt worden ist und 2) daß dieselbe
ursprünglich vor der Burgmauer gelegen hat. Dieser zweite Punkt,
dessen Richtigkeit die genaue Schliemannsche Publikation unzweifelhaft erwiesen
hat, ist für uns der wichtigste. Er stößt nämlich die oben mitgetheilte Inter¬
pretation der Pausaniasstelle dnrch Schliemann und somit seine ganze Hypo¬
these über die Auffindung der Grabstätte Agamenmons über den Haufen. Die
Gräberanlage wurde erst bei einer später vorgenommenen Erweiterung der
Burg in den Befestigungsring hineingezogen und das Löwenthor zum Haupt¬
thor der ganzen Burganlage. In Folge der bekannten Scheu des Alterthums
vor der Gräberverletzung wurde die Grabstätte bei der Burgerweiterung nicht
nur geschont, sondern mit der neuen Mauer sorgfältig umgangen. Daraus
folgt zugleich, daß die Grabstätte älter sein muß als das Löwenthor.

War das die erste Umgestaltung, welche sich der Vorsprung der Akropolis,
ans welchem Schliemann die Gräber entdeckte, gefallen lassen mußte, so war
die zweite noch viel durchgreifender und weniger pietätvoll. Es muß eine
Zeit der höchsten Noth gewesen sein, als man sich entschloß, die Grabstätte
der Ahnherren durch aufgefahrenen Schutt zu erhöhen, die Gräber also zu
verschütten und hinter der ringförmigen Mauer aus aufrechtstehenden Platten
einen Wehrgang zu errichten, von welchem die Vertheidiger eine leichte Umschau
halten und die durch das Löwenthor anrückenden Feinde wirksam beschießen
konnten- Adler glaubt, daß diese Zeit der höchsten Noth erst eingetreten sei
kurz bevor die Argiver ihren Rachezug gegen Mykenae unternahmen, der im
Jahre 468 mit der Eroberung und Zerstörung des alten Königssitzes endigte.
Die Argiver hegten von Alters her einen Groll gegen die Mykenäer. Diese waren
allein von den Bewohnern der Argolis den Lcckedämoniern bei Thermopylae
zu Hülfe gekommen, während sich Argos aus kleinlichen Eifersuchtsgrttnden
ausdrücklich geweigert hatte. Die Argiver verlangten ferner von den Myke-
näern, daß die Leitung der nemeischen Spiele ihnen allein überlassen werden
sollte. Endlich entstanden noch zwischen den beiden rivalisirenden Städten
Streitigkeiten über den Kultus der Hera. Diese Streitigkeiten mögen lange
genug gedauert haben, sodaß sich die Mykenäer gegen alle Eventualitäten wohl
vorsehen konnten. Sie hatten also Zeit, sich durch Erweiterung und Verstcir-


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[0296] Gang, der eine obere Brustwehr gebildet hat. In diesem Erdkörper wurden allmälig fünf schachtartige, 8 bis 9 Meter tiefe Gruben, welche bis auf das Niveau des Burgfelsens herabreichen, entdeckt." Diese fünf Gruben sind die „Königsgräber", in welchen Schliemann die vermeintlichen Reste Agamenmons und seiner Gefährten fand. Adler folgerte aus den lückenhaften Berichten, die ihm damals vorlagen, vorsichtiger Weise nur zwei Thatsachen: 1) daß hier eine gemeinsame Begräbnißstätte, vielleicht die kleine Nekropolis einer ebenso reichen wie prunkliebenden Dynastie entdeckt worden ist und 2) daß dieselbe ursprünglich vor der Burgmauer gelegen hat. Dieser zweite Punkt, dessen Richtigkeit die genaue Schliemannsche Publikation unzweifelhaft erwiesen hat, ist für uns der wichtigste. Er stößt nämlich die oben mitgetheilte Inter¬ pretation der Pausaniasstelle dnrch Schliemann und somit seine ganze Hypo¬ these über die Auffindung der Grabstätte Agamenmons über den Haufen. Die Gräberanlage wurde erst bei einer später vorgenommenen Erweiterung der Burg in den Befestigungsring hineingezogen und das Löwenthor zum Haupt¬ thor der ganzen Burganlage. In Folge der bekannten Scheu des Alterthums vor der Gräberverletzung wurde die Grabstätte bei der Burgerweiterung nicht nur geschont, sondern mit der neuen Mauer sorgfältig umgangen. Daraus folgt zugleich, daß die Grabstätte älter sein muß als das Löwenthor. War das die erste Umgestaltung, welche sich der Vorsprung der Akropolis, ans welchem Schliemann die Gräber entdeckte, gefallen lassen mußte, so war die zweite noch viel durchgreifender und weniger pietätvoll. Es muß eine Zeit der höchsten Noth gewesen sein, als man sich entschloß, die Grabstätte der Ahnherren durch aufgefahrenen Schutt zu erhöhen, die Gräber also zu verschütten und hinter der ringförmigen Mauer aus aufrechtstehenden Platten einen Wehrgang zu errichten, von welchem die Vertheidiger eine leichte Umschau halten und die durch das Löwenthor anrückenden Feinde wirksam beschießen konnten- Adler glaubt, daß diese Zeit der höchsten Noth erst eingetreten sei kurz bevor die Argiver ihren Rachezug gegen Mykenae unternahmen, der im Jahre 468 mit der Eroberung und Zerstörung des alten Königssitzes endigte. Die Argiver hegten von Alters her einen Groll gegen die Mykenäer. Diese waren allein von den Bewohnern der Argolis den Lcckedämoniern bei Thermopylae zu Hülfe gekommen, während sich Argos aus kleinlichen Eifersuchtsgrttnden ausdrücklich geweigert hatte. Die Argiver verlangten ferner von den Myke- näern, daß die Leitung der nemeischen Spiele ihnen allein überlassen werden sollte. Endlich entstanden noch zwischen den beiden rivalisirenden Städten Streitigkeiten über den Kultus der Hera. Diese Streitigkeiten mögen lange genug gedauert haben, sodaß sich die Mykenäer gegen alle Eventualitäten wohl vorsehen konnten. Sie hatten also Zeit, sich durch Erweiterung und Verstcir-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/296>, abgerufen am 27.09.2024.