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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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lauter uns um 10 Prozent voran sind, daß endlich das deutsche Bibliothekswesen,
einzelne Städte ausgenommen, gegen das englische verhältnißmäßig bedeutungs¬
los ist. Trotzdem läßt sich nicht hinwegläugnen, daß täglich bei uns auf
öffentlichen Bibliotheken Wünsche angebracht werden, die der Bittsteller nicht
ohne Erröthen aussprechen sollte. Das Bild von der vornehmen und reichen
deutschen Frau, die heute in ihrem Hause ein üppiges Mahl veranstaltet, bei
dein der Wein in Strömen fließt, und morgen die Zofe in die Bibliothek schickt,
um sich den neuesten Moderoman in einem Exemplar holen zu lassen, nach
dessen Benutzung sie sich die Hände mit grüner Seife reinigen möchte, ist oft
genug gezeichnet worden. Aber auch unter dem wissenschaftlich gebildeten
Publikum, welches wissenschaftliche Literatur auf Bibliotheken sucht, ist zum
guten Theil dieselbe mesquine Gesinnung verbreitet. Freilich ist der deutsche
Gelehrte im Durchschnitt ein armer Teufel, der auf die Ergänzung feiner Pri¬
vatbibliothek im Jahre nicht eben große Summen verwenden kann. Kann es
kläglichere Verhältnisse geben, als wenn ein Schriftsteller von einer Zeitschrift,
die er selbst viele Jahre lang herausgegeben hat, so oft er einen Band da¬
von braucht, ihn von der öffentlichen Bibliothek entleihen muß, weil er auch
sein letztes Exemplar hat veräußern müssen? Das ist deutsches Schriststeller-
loos! Aber gerade unter den ärmsten Teufeln begegnet man oft in diesem
Punkte einer rührenden Vornehmheit der Gesinnung, während umgekehrt no¬
torisch wohlsituirte Herren bisweilen die nothwendigsten Handbücher ihres eigen¬
sten wissenschaftlichen Faches, ohne welche sie gar nichts anfangen, die sie keinen
Tag entbehren können, morale-, ja selbst jahrelang von der Bibliothek zu Hause
behalten und sie auf diese Weise andern entziehen, die vielleicht beim besten
Willen nicht im Stande sind, sie sich anzuschaffen. Der Bibliothekar macht
hier gar wunderliche Beobachtungen und lernt hierdurch manchen seiner Mit¬
menschen mit der Zeit von einer Seite kennen, von der andre nichts ahnen.

Zum Glück ist dafür gesorgt, daß unter all den Forderungen, die an den
Bibliothekar gestellt werden, es an der nöthigen erheiternden Abwechslung nicht
fehle. Der unfreiwillige Humor treibt auch im Bibliotheksverkehr entzückende
Blüthen. Unbezahlbare Scherze begegnen fort und fort unter den Bücherbe¬
bestellungen, schriftlichen wie mündlichen. Man hat die Bibliothekare in der
oben erwähnten Weise mit den Postbeamten verglichen. Nun, was Bibliothe¬
karen im Errathen von literarischen Wünschen aller Art zugemuthet wird, das
läßt sich allerdings nur mit dem auf eine Linie stellen, was Postbeamte im
Entziffern von Briefadressen leisten müssen. Wer soll ahnen, daß unter einem
Titel, wie: "Berner, Bibliothek, ova. wW. Ur. 139" eine Handschrift der Bi¬
bliothek in Bern gemeint ist? daß derjenige, der sich das "Oesterreichische Pri¬
vatrecht in Ungarn" ansbat, eigentlich "Unger's österreichisches Privatrecht"


lauter uns um 10 Prozent voran sind, daß endlich das deutsche Bibliothekswesen,
einzelne Städte ausgenommen, gegen das englische verhältnißmäßig bedeutungs¬
los ist. Trotzdem läßt sich nicht hinwegläugnen, daß täglich bei uns auf
öffentlichen Bibliotheken Wünsche angebracht werden, die der Bittsteller nicht
ohne Erröthen aussprechen sollte. Das Bild von der vornehmen und reichen
deutschen Frau, die heute in ihrem Hause ein üppiges Mahl veranstaltet, bei
dein der Wein in Strömen fließt, und morgen die Zofe in die Bibliothek schickt,
um sich den neuesten Moderoman in einem Exemplar holen zu lassen, nach
dessen Benutzung sie sich die Hände mit grüner Seife reinigen möchte, ist oft
genug gezeichnet worden. Aber auch unter dem wissenschaftlich gebildeten
Publikum, welches wissenschaftliche Literatur auf Bibliotheken sucht, ist zum
guten Theil dieselbe mesquine Gesinnung verbreitet. Freilich ist der deutsche
Gelehrte im Durchschnitt ein armer Teufel, der auf die Ergänzung feiner Pri¬
vatbibliothek im Jahre nicht eben große Summen verwenden kann. Kann es
kläglichere Verhältnisse geben, als wenn ein Schriftsteller von einer Zeitschrift,
die er selbst viele Jahre lang herausgegeben hat, so oft er einen Band da¬
von braucht, ihn von der öffentlichen Bibliothek entleihen muß, weil er auch
sein letztes Exemplar hat veräußern müssen? Das ist deutsches Schriststeller-
loos! Aber gerade unter den ärmsten Teufeln begegnet man oft in diesem
Punkte einer rührenden Vornehmheit der Gesinnung, während umgekehrt no¬
torisch wohlsituirte Herren bisweilen die nothwendigsten Handbücher ihres eigen¬
sten wissenschaftlichen Faches, ohne welche sie gar nichts anfangen, die sie keinen
Tag entbehren können, morale-, ja selbst jahrelang von der Bibliothek zu Hause
behalten und sie auf diese Weise andern entziehen, die vielleicht beim besten
Willen nicht im Stande sind, sie sich anzuschaffen. Der Bibliothekar macht
hier gar wunderliche Beobachtungen und lernt hierdurch manchen seiner Mit¬
menschen mit der Zeit von einer Seite kennen, von der andre nichts ahnen.

Zum Glück ist dafür gesorgt, daß unter all den Forderungen, die an den
Bibliothekar gestellt werden, es an der nöthigen erheiternden Abwechslung nicht
fehle. Der unfreiwillige Humor treibt auch im Bibliotheksverkehr entzückende
Blüthen. Unbezahlbare Scherze begegnen fort und fort unter den Bücherbe¬
bestellungen, schriftlichen wie mündlichen. Man hat die Bibliothekare in der
oben erwähnten Weise mit den Postbeamten verglichen. Nun, was Bibliothe¬
karen im Errathen von literarischen Wünschen aller Art zugemuthet wird, das
läßt sich allerdings nur mit dem auf eine Linie stellen, was Postbeamte im
Entziffern von Briefadressen leisten müssen. Wer soll ahnen, daß unter einem
Titel, wie: „Berner, Bibliothek, ova. wW. Ur. 139" eine Handschrift der Bi¬
bliothek in Bern gemeint ist? daß derjenige, der sich das „Oesterreichische Pri¬
vatrecht in Ungarn" ansbat, eigentlich „Unger's österreichisches Privatrecht"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/270>, abgerufen am 27.09.2024.