Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wahrzunehmen glauben. Wie dieser Philosoph geht anch Zeller von Kant
aus und sieht in unseren Vorstellungen Elemente der Erfahrung mit apriorischen
subjektiven Bestandtheilen verknüpft; aber wie dieser ist er ebenfalls darauf
bedacht, der Verflüchtigung der ersteren durch letztere zu wehren. Er stellt
zuerst fest, was zum apriorischen Inhalt unseres Bewußtseins gehört, und
geht dabei über die von Kant gezogenen Grenzen noch hinaus, indem er die
physiologische Thatsache zur Geltung bringt, daß auch schon die Empfindung
einen subjektiven Charakter trägt, da dieselbe als physische Reaktion gegen
die Reize, welche durch Bewegungen in den Sinnesorganen entstanden sind,
ihrer Qualität nach von diesen organischen Vorgängen sich unterscheidet. Er
sieht auch in der Empfindung einen apriorischen Faktor.*) Zu den apriorischen
Formen der Anschauung, die Kant voraussetzt, der Anschauung des Raums
und der Zeit, fügt Zeller noch eine dritte, die der Zahl hinzu, die Kant und
Schopenhauer aus der Zeit ableiteten, und vertritt eine Theorie, die in neue¬
ster Zeit auch von Baumann**) vertheidigt worden ist. Der apriorische
Charakter dieser Anschauungsformen schließt aber nicht aus, daß sie durch em¬
pirische Vermittelung entstanden sind, durch Abstraktion aus den thatsächlich in
der Erfahrung gegebenen Elementen. Doch ist es, wie es uns scheint, Zeller
nicht gelungen, die Sonderung und Vertheilnng der objektiven und subjektiven
Bestandtheile in den Anschauungsformen zu klarem Ausdruck zu bringen. So
sehr Referent sich bemüht hat, ist es ihm nicht geglückt, den Sinn des Satzes
zu enträthseln, in dem die hier einschlagenden Untersuchungen zusammengefaßt
sind. Wenn Zeller sagt: "die Raumanschauung und der Raumbegriff
sind empirischen Ursprungs, der Raum selbst dagegen ist, nach der subjektiven
Seite betrachtet, eine apriorische Form der Verknüpfung gewisser Empfindun-
gen, eine apriorische Anschauungsform (S. 510)" -- so gestehen wir, einmal
darin einen Widerspruch zu finden, daß von der Raumanschauung und dem
Raum begriff in einem Athem der apriorische Charakter bejaht und verneint
wird, sodann bekennen wir, nicht zu verstehen, was denn der Raum selbst im
Subjekt sein soll, wenn nicht Inhalt seiner Anschauung, seiner Vorstellung,
seines Begriffs.

Von den Anschauungsformen geht Zeller zu den Formen des Denkens
über und verweilt zuerst längere Zeit bei der Kategorie der Kausalität. Er
läßt dieselbe unmittelbar weder aus unserm Bewußtsein noch aus der Er-




So sagt auch Lotze: Sie (die sinnlichen Empfindungen) sind die vru"'!, uns ei¬
genthümlichen Möglichkeiten des Empfindens, zur Wirklichkeit in bestimmter Reihenfolge
freilich durch äußere Veranlassungen berufen, aber nie durch diese Veranlassungen uns fertig
überliefert. System der Philosophie. Th, I. S. 620.
"") Die Lehren von Rouen, Zeit und Mathematik. Th. Q. S. "68 -71.

wahrzunehmen glauben. Wie dieser Philosoph geht anch Zeller von Kant
aus und sieht in unseren Vorstellungen Elemente der Erfahrung mit apriorischen
subjektiven Bestandtheilen verknüpft; aber wie dieser ist er ebenfalls darauf
bedacht, der Verflüchtigung der ersteren durch letztere zu wehren. Er stellt
zuerst fest, was zum apriorischen Inhalt unseres Bewußtseins gehört, und
geht dabei über die von Kant gezogenen Grenzen noch hinaus, indem er die
physiologische Thatsache zur Geltung bringt, daß auch schon die Empfindung
einen subjektiven Charakter trägt, da dieselbe als physische Reaktion gegen
die Reize, welche durch Bewegungen in den Sinnesorganen entstanden sind,
ihrer Qualität nach von diesen organischen Vorgängen sich unterscheidet. Er
sieht auch in der Empfindung einen apriorischen Faktor.*) Zu den apriorischen
Formen der Anschauung, die Kant voraussetzt, der Anschauung des Raums
und der Zeit, fügt Zeller noch eine dritte, die der Zahl hinzu, die Kant und
Schopenhauer aus der Zeit ableiteten, und vertritt eine Theorie, die in neue¬
ster Zeit auch von Baumann**) vertheidigt worden ist. Der apriorische
Charakter dieser Anschauungsformen schließt aber nicht aus, daß sie durch em¬
pirische Vermittelung entstanden sind, durch Abstraktion aus den thatsächlich in
der Erfahrung gegebenen Elementen. Doch ist es, wie es uns scheint, Zeller
nicht gelungen, die Sonderung und Vertheilnng der objektiven und subjektiven
Bestandtheile in den Anschauungsformen zu klarem Ausdruck zu bringen. So
sehr Referent sich bemüht hat, ist es ihm nicht geglückt, den Sinn des Satzes
zu enträthseln, in dem die hier einschlagenden Untersuchungen zusammengefaßt
sind. Wenn Zeller sagt: „die Raumanschauung und der Raumbegriff
sind empirischen Ursprungs, der Raum selbst dagegen ist, nach der subjektiven
Seite betrachtet, eine apriorische Form der Verknüpfung gewisser Empfindun-
gen, eine apriorische Anschauungsform (S. 510)" — so gestehen wir, einmal
darin einen Widerspruch zu finden, daß von der Raumanschauung und dem
Raum begriff in einem Athem der apriorische Charakter bejaht und verneint
wird, sodann bekennen wir, nicht zu verstehen, was denn der Raum selbst im
Subjekt sein soll, wenn nicht Inhalt seiner Anschauung, seiner Vorstellung,
seines Begriffs.

Von den Anschauungsformen geht Zeller zu den Formen des Denkens
über und verweilt zuerst längere Zeit bei der Kategorie der Kausalität. Er
läßt dieselbe unmittelbar weder aus unserm Bewußtsein noch aus der Er-




So sagt auch Lotze: Sie (die sinnlichen Empfindungen) sind die vru»'!, uns ei¬
genthümlichen Möglichkeiten des Empfindens, zur Wirklichkeit in bestimmter Reihenfolge
freilich durch äußere Veranlassungen berufen, aber nie durch diese Veranlassungen uns fertig
überliefert. System der Philosophie. Th, I. S. 620.
»») Die Lehren von Rouen, Zeit und Mathematik. Th. Q. S. «68 -71.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0222" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/139515"/>
          <p xml:id="ID_630" prev="#ID_629"> wahrzunehmen glauben. Wie dieser Philosoph geht anch Zeller von Kant<lb/>
aus und sieht in unseren Vorstellungen Elemente der Erfahrung mit apriorischen<lb/>
subjektiven Bestandtheilen verknüpft; aber wie dieser ist er ebenfalls darauf<lb/>
bedacht, der Verflüchtigung der ersteren durch letztere zu wehren. Er stellt<lb/>
zuerst fest, was zum apriorischen Inhalt unseres Bewußtseins gehört, und<lb/>
geht dabei über die von Kant gezogenen Grenzen noch hinaus, indem er die<lb/>
physiologische Thatsache zur Geltung bringt, daß auch schon die Empfindung<lb/>
einen subjektiven Charakter trägt, da dieselbe als physische Reaktion gegen<lb/>
die Reize, welche durch Bewegungen in den Sinnesorganen entstanden sind,<lb/>
ihrer Qualität nach von diesen organischen Vorgängen sich unterscheidet. Er<lb/>
sieht auch in der Empfindung einen apriorischen Faktor.*) Zu den apriorischen<lb/>
Formen der Anschauung, die Kant voraussetzt, der Anschauung des Raums<lb/>
und der Zeit, fügt Zeller noch eine dritte, die der Zahl hinzu, die Kant und<lb/>
Schopenhauer aus der Zeit ableiteten, und vertritt eine Theorie, die in neue¬<lb/>
ster Zeit auch von Baumann**) vertheidigt worden ist. Der apriorische<lb/>
Charakter dieser Anschauungsformen schließt aber nicht aus, daß sie durch em¬<lb/>
pirische Vermittelung entstanden sind, durch Abstraktion aus den thatsächlich in<lb/>
der Erfahrung gegebenen Elementen. Doch ist es, wie es uns scheint, Zeller<lb/>
nicht gelungen, die Sonderung und Vertheilnng der objektiven und subjektiven<lb/>
Bestandtheile in den Anschauungsformen zu klarem Ausdruck zu bringen. So<lb/>
sehr Referent sich bemüht hat, ist es ihm nicht geglückt, den Sinn des Satzes<lb/>
zu enträthseln, in dem die hier einschlagenden Untersuchungen zusammengefaßt<lb/>
sind. Wenn Zeller sagt: &#x201E;die Raumanschauung und der Raumbegriff<lb/>
sind empirischen Ursprungs, der Raum selbst dagegen ist, nach der subjektiven<lb/>
Seite betrachtet, eine apriorische Form der Verknüpfung gewisser Empfindun-<lb/>
gen, eine apriorische Anschauungsform (S. 510)" &#x2014; so gestehen wir, einmal<lb/>
darin einen Widerspruch zu finden, daß von der Raumanschauung und dem<lb/>
Raum begriff in einem Athem der apriorische Charakter bejaht und verneint<lb/>
wird, sodann bekennen wir, nicht zu verstehen, was denn der Raum selbst im<lb/>
Subjekt sein soll, wenn nicht Inhalt seiner Anschauung, seiner Vorstellung,<lb/>
seines Begriffs.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_631" next="#ID_632"> Von den Anschauungsformen geht Zeller zu den Formen des Denkens<lb/>
über und verweilt zuerst längere Zeit bei der Kategorie der Kausalität. Er<lb/>
läßt dieselbe unmittelbar weder aus unserm Bewußtsein noch aus der Er-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_92" place="foot"> So sagt auch Lotze: Sie (die sinnlichen Empfindungen) sind die vru»'!, uns ei¬<lb/>
genthümlichen Möglichkeiten des Empfindens, zur Wirklichkeit in bestimmter Reihenfolge<lb/>
freilich durch äußere Veranlassungen berufen, aber nie durch diese Veranlassungen uns fertig<lb/>
überliefert. System der Philosophie. Th, I. S. 620.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_93" place="foot"> »») Die Lehren von Rouen, Zeit und Mathematik. Th. Q. S. «68 -71.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0222] wahrzunehmen glauben. Wie dieser Philosoph geht anch Zeller von Kant aus und sieht in unseren Vorstellungen Elemente der Erfahrung mit apriorischen subjektiven Bestandtheilen verknüpft; aber wie dieser ist er ebenfalls darauf bedacht, der Verflüchtigung der ersteren durch letztere zu wehren. Er stellt zuerst fest, was zum apriorischen Inhalt unseres Bewußtseins gehört, und geht dabei über die von Kant gezogenen Grenzen noch hinaus, indem er die physiologische Thatsache zur Geltung bringt, daß auch schon die Empfindung einen subjektiven Charakter trägt, da dieselbe als physische Reaktion gegen die Reize, welche durch Bewegungen in den Sinnesorganen entstanden sind, ihrer Qualität nach von diesen organischen Vorgängen sich unterscheidet. Er sieht auch in der Empfindung einen apriorischen Faktor.*) Zu den apriorischen Formen der Anschauung, die Kant voraussetzt, der Anschauung des Raums und der Zeit, fügt Zeller noch eine dritte, die der Zahl hinzu, die Kant und Schopenhauer aus der Zeit ableiteten, und vertritt eine Theorie, die in neue¬ ster Zeit auch von Baumann**) vertheidigt worden ist. Der apriorische Charakter dieser Anschauungsformen schließt aber nicht aus, daß sie durch em¬ pirische Vermittelung entstanden sind, durch Abstraktion aus den thatsächlich in der Erfahrung gegebenen Elementen. Doch ist es, wie es uns scheint, Zeller nicht gelungen, die Sonderung und Vertheilnng der objektiven und subjektiven Bestandtheile in den Anschauungsformen zu klarem Ausdruck zu bringen. So sehr Referent sich bemüht hat, ist es ihm nicht geglückt, den Sinn des Satzes zu enträthseln, in dem die hier einschlagenden Untersuchungen zusammengefaßt sind. Wenn Zeller sagt: „die Raumanschauung und der Raumbegriff sind empirischen Ursprungs, der Raum selbst dagegen ist, nach der subjektiven Seite betrachtet, eine apriorische Form der Verknüpfung gewisser Empfindun- gen, eine apriorische Anschauungsform (S. 510)" — so gestehen wir, einmal darin einen Widerspruch zu finden, daß von der Raumanschauung und dem Raum begriff in einem Athem der apriorische Charakter bejaht und verneint wird, sodann bekennen wir, nicht zu verstehen, was denn der Raum selbst im Subjekt sein soll, wenn nicht Inhalt seiner Anschauung, seiner Vorstellung, seines Begriffs. Von den Anschauungsformen geht Zeller zu den Formen des Denkens über und verweilt zuerst längere Zeit bei der Kategorie der Kausalität. Er läßt dieselbe unmittelbar weder aus unserm Bewußtsein noch aus der Er- So sagt auch Lotze: Sie (die sinnlichen Empfindungen) sind die vru»'!, uns ei¬ genthümlichen Möglichkeiten des Empfindens, zur Wirklichkeit in bestimmter Reihenfolge freilich durch äußere Veranlassungen berufen, aber nie durch diese Veranlassungen uns fertig überliefert. System der Philosophie. Th, I. S. 620. »») Die Lehren von Rouen, Zeit und Mathematik. Th. Q. S. «68 -71.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/222
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/222>, abgerufen am 20.10.2024.