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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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kennen. Nur soll man auch hier den alten Zvllernwahlspruch gelten lassen:
Luna cuiaM.

Betrachten wir Baiern nun in kurzen Zügen, wie es sich während des
abgelaufenen Jahres in parlamentarischer, in kirchlicher, in kulturpolitischer
Hinsicht gestaltet hat; wie die Stimmung des Landes, wie die Bildungsver¬
hältnisse des Volkes sich entwickeln. Wenn wir dabei das parlamentarische
Element an die Spitze setzen, so geschieht es nicht, weil wir ihm den ersten
Rang und die meiste Bedeutung zuschreiben, sondern weil dies Element eben
gewissermaßen die Zustände eines Landes offiziell reprüsentiren soll, weil es
in der Ordnung politischer Institutionen formell die erste Stufe einnimmt.

Sachlich betrachtet, steht allerdings das parlamentarische Leben, wie es
sich dermaleir in Baiern zeigt, keineswegs auf solch hoher Stufe und mau
kann wohl mit voller Objektivität behaupten, daß die Physiognomie der heutigen
Kammer nie und nimmermehr die Physiognomie des Landes, seiner politischen
Strebungen und Strömungen vollkommen zum Ausdruck bringt. Schon des¬
halb nicht, weil sie aus einer unendlich forcirten und erregten Wahl hervor¬
gegangen, aber noch weit mehr darum, weil sich in der kurzen Zeit ihres
Bestehens bereits die verschiedensten Friktionen innerhalb der klerikalen Partei
ergeben haben, die vielleicht weit abliegen von jenen Wandlungen und Ver¬
schiebungen, welche sich unterdessen in den Köpfen der Wähler, und in der
Masse des Volkes vollzogen.

Die Handhabung des parlamentarischen Apparates selbst, die eigentliche
Führung der Geschäfte aber hatte auch im abgelaufenen Jahre mit bedeutenden
Schwierigkeiten zu kämpfen. Die größte liegt natürlich schon in der Zwei¬
stimmenmehrheit an sich, wodurch jede Abstimmung dem Zufalle preisgegeben
ist und jede systematische Entscheidung in Frage gestellt wird. Vielleicht mag
dies Gefühl dazu beitragen, auch die Arbeitskraft der Kammer, die Raschheit
und Energie ihrer Amtirung einigermaßen zu lahmen; denn leider ist die
Thatsache unbestreitbar, daß es wiederholt am "Material" sür öffentliche
Sitzungen fehlt und daß Baiern auch das beginnende Jahr und damit seine
XIV. Finanzperiode ohne geregeltes Budget beginnt. Der Staatshaushalt
wird "provisorisch" weitergeführt. Früher hatte das Land sechsjährige Finanz-
Perioden, die aber jetzt in zweijährige verwandelt sind; der Einfluß der Landes-
vertretung, die demnach sich alle zwei Jahre über die finanziellen Fragen zu
äußern hat, und dreimal öfter als vorher berufen werden muß, ist selbstver¬
ständlich dadurch gewachsen. Allein dieser Steigerung der Kompetenz sollte auch
eine gesteigerte Leistungsfähigkeit seitens der Kammer selbst entsprechen und
die verfassungsmäßige Frist von drei Monaten (vom 1. Oktober bis 1. Januar)
wäre uuter normalen Verhältnissen wahrlich genügend, um das Budget bis


Grenzboten I. 137L. Lü

kennen. Nur soll man auch hier den alten Zvllernwahlspruch gelten lassen:
Luna cuiaM.

Betrachten wir Baiern nun in kurzen Zügen, wie es sich während des
abgelaufenen Jahres in parlamentarischer, in kirchlicher, in kulturpolitischer
Hinsicht gestaltet hat; wie die Stimmung des Landes, wie die Bildungsver¬
hältnisse des Volkes sich entwickeln. Wenn wir dabei das parlamentarische
Element an die Spitze setzen, so geschieht es nicht, weil wir ihm den ersten
Rang und die meiste Bedeutung zuschreiben, sondern weil dies Element eben
gewissermaßen die Zustände eines Landes offiziell reprüsentiren soll, weil es
in der Ordnung politischer Institutionen formell die erste Stufe einnimmt.

Sachlich betrachtet, steht allerdings das parlamentarische Leben, wie es
sich dermaleir in Baiern zeigt, keineswegs auf solch hoher Stufe und mau
kann wohl mit voller Objektivität behaupten, daß die Physiognomie der heutigen
Kammer nie und nimmermehr die Physiognomie des Landes, seiner politischen
Strebungen und Strömungen vollkommen zum Ausdruck bringt. Schon des¬
halb nicht, weil sie aus einer unendlich forcirten und erregten Wahl hervor¬
gegangen, aber noch weit mehr darum, weil sich in der kurzen Zeit ihres
Bestehens bereits die verschiedensten Friktionen innerhalb der klerikalen Partei
ergeben haben, die vielleicht weit abliegen von jenen Wandlungen und Ver¬
schiebungen, welche sich unterdessen in den Köpfen der Wähler, und in der
Masse des Volkes vollzogen.

Die Handhabung des parlamentarischen Apparates selbst, die eigentliche
Führung der Geschäfte aber hatte auch im abgelaufenen Jahre mit bedeutenden
Schwierigkeiten zu kämpfen. Die größte liegt natürlich schon in der Zwei¬
stimmenmehrheit an sich, wodurch jede Abstimmung dem Zufalle preisgegeben
ist und jede systematische Entscheidung in Frage gestellt wird. Vielleicht mag
dies Gefühl dazu beitragen, auch die Arbeitskraft der Kammer, die Raschheit
und Energie ihrer Amtirung einigermaßen zu lahmen; denn leider ist die
Thatsache unbestreitbar, daß es wiederholt am „Material" sür öffentliche
Sitzungen fehlt und daß Baiern auch das beginnende Jahr und damit seine
XIV. Finanzperiode ohne geregeltes Budget beginnt. Der Staatshaushalt
wird „provisorisch" weitergeführt. Früher hatte das Land sechsjährige Finanz-
Perioden, die aber jetzt in zweijährige verwandelt sind; der Einfluß der Landes-
vertretung, die demnach sich alle zwei Jahre über die finanziellen Fragen zu
äußern hat, und dreimal öfter als vorher berufen werden muß, ist selbstver¬
ständlich dadurch gewachsen. Allein dieser Steigerung der Kompetenz sollte auch
eine gesteigerte Leistungsfähigkeit seitens der Kammer selbst entsprechen und
die verfassungsmäßige Frist von drei Monaten (vom 1. Oktober bis 1. Januar)
wäre uuter normalen Verhältnissen wahrlich genügend, um das Budget bis


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/201>, abgerufen am 18.01.2025.