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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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gemessene Zahl schwergerüsteten Fußvolks. Für den Seekrieg wurde jeder
Naukrarie Herstellung, Unterhaltung und Bemannung eines Dreireihenschiffs auf¬
erlegt. Die Edlen des Bezirks gingen als Krieger an Bord, die Fischer als
Matrosen, die Bauern und Hirten als Ruderer. Der Adel jeder Naukrarie
wählte aus seiner Mitte den Befehlshaber, den Prytanen. Dieser Kontin-
gentssührer vertrat zugleich deu Bezirk, und es dauerte nicht lange, so bildeten
die 48 Prytanen den regierenden Rath von Attika. Sie zogen das Volk zum
Kriegsdienst heran; sie besteuerten es zum Behufe des Schiffbaus und indem
ihm ungewohnte Lasten auf. Um der Willkür zu entgehen, forderte das Volk
geschriebene Gesetze; die Kodifikation aber, welche Drakon vornahm, steigerte
sein Elend. Namentlich die Schnldgesetze lieferten es mit gebundenen Händen
in die Gewalt der Besitzenden, des Adels. "Es gewann den Anschein, als
ob die gestimmte freie Bevölkerung in Attika, ohne doch von ihren Edelleuten
erobert zu sein, in zinspflichtige und gutsgehörige Hintersassen derselben ver¬
wandelt werden würde, als ob sie zu den Heiloten eines Adels herabsänke,
der, wie sich bald zeigen sollte, doch nicht im Stande war, die Grenzen gegen
viel schwächere Nachbarn zu wahren und die Waffenehre des Landes aufrecht
zu erhalten."

In dem Kriege gegen Megara ging die Insel Salamis verloren; die
Unzufriedenheit mit der Regierung lähmte die Kraft des Landes, und der
Adel war für sich nicht stark genug oder ohne ausreichende Hingebung, um
das wichtige Eiland wiederzugewinnen. Nach langem und von schweren Ver¬
lusten begleiteten Kriege beschloß man, in der Weise der Gesetze Drakons, die
Todesstrafe für Jeden, welcher auf's Neue die Wiedervberung von Salamis
in Anregung bringe. Da diese Insel indeß die gestimmte Westküste Attikas
blokirte, so verurtheilte jener Beschluß einen nicht unbedeutenden Theil des Volks
zur Nahrungslosigkeit, indem er Fischerei und Handel brach legte. Und nun
brachte der Adel die berüchtigten Schnldgesetze Drakons zur rücksichtslosesten
Anwendung. Auf allen Aeckern erhoben sich die steinernen Pfandsäulen, die
Form der Hypothekenvrdnnng jener Zeit; ein Freigut nach dem andern verfiel,
ein Bauer nach dem andern sank zum Tagelöhner herab; die Matrosen, die
Handwerker verkauften erst ihre Kinder, dann sich selbst als Sklaven, und der
Adel, der sich nicht gescheut, den Verlust der Waffenehre für seinen Privat¬
vortheil auszubeuten, nahm auch nicht Anstand, seine eigenen Landsleute wie
andere Sklaven zu behandeln und sie nach auswärts zu verkaufen. -- Die
Zustände waren völlig zerrüttet: die Wehrkraft in Verfall, die Adelsgeschlechter
untereinander verfeindet, die Regierung den Prytanen gegenüber ohne Macht.
Und nun wurde der Versuch eines Edelmannes, des Kylon, sich der Tyrannis
zu bemächtigen, nur dadurch niedergeschlagen, daß man die Altäre der ehrwür-


gemessene Zahl schwergerüsteten Fußvolks. Für den Seekrieg wurde jeder
Naukrarie Herstellung, Unterhaltung und Bemannung eines Dreireihenschiffs auf¬
erlegt. Die Edlen des Bezirks gingen als Krieger an Bord, die Fischer als
Matrosen, die Bauern und Hirten als Ruderer. Der Adel jeder Naukrarie
wählte aus seiner Mitte den Befehlshaber, den Prytanen. Dieser Kontin-
gentssührer vertrat zugleich deu Bezirk, und es dauerte nicht lange, so bildeten
die 48 Prytanen den regierenden Rath von Attika. Sie zogen das Volk zum
Kriegsdienst heran; sie besteuerten es zum Behufe des Schiffbaus und indem
ihm ungewohnte Lasten auf. Um der Willkür zu entgehen, forderte das Volk
geschriebene Gesetze; die Kodifikation aber, welche Drakon vornahm, steigerte
sein Elend. Namentlich die Schnldgesetze lieferten es mit gebundenen Händen
in die Gewalt der Besitzenden, des Adels. „Es gewann den Anschein, als
ob die gestimmte freie Bevölkerung in Attika, ohne doch von ihren Edelleuten
erobert zu sein, in zinspflichtige und gutsgehörige Hintersassen derselben ver¬
wandelt werden würde, als ob sie zu den Heiloten eines Adels herabsänke,
der, wie sich bald zeigen sollte, doch nicht im Stande war, die Grenzen gegen
viel schwächere Nachbarn zu wahren und die Waffenehre des Landes aufrecht
zu erhalten."

In dem Kriege gegen Megara ging die Insel Salamis verloren; die
Unzufriedenheit mit der Regierung lähmte die Kraft des Landes, und der
Adel war für sich nicht stark genug oder ohne ausreichende Hingebung, um
das wichtige Eiland wiederzugewinnen. Nach langem und von schweren Ver¬
lusten begleiteten Kriege beschloß man, in der Weise der Gesetze Drakons, die
Todesstrafe für Jeden, welcher auf's Neue die Wiedervberung von Salamis
in Anregung bringe. Da diese Insel indeß die gestimmte Westküste Attikas
blokirte, so verurtheilte jener Beschluß einen nicht unbedeutenden Theil des Volks
zur Nahrungslosigkeit, indem er Fischerei und Handel brach legte. Und nun
brachte der Adel die berüchtigten Schnldgesetze Drakons zur rücksichtslosesten
Anwendung. Auf allen Aeckern erhoben sich die steinernen Pfandsäulen, die
Form der Hypothekenvrdnnng jener Zeit; ein Freigut nach dem andern verfiel,
ein Bauer nach dem andern sank zum Tagelöhner herab; die Matrosen, die
Handwerker verkauften erst ihre Kinder, dann sich selbst als Sklaven, und der
Adel, der sich nicht gescheut, den Verlust der Waffenehre für seinen Privat¬
vortheil auszubeuten, nahm auch nicht Anstand, seine eigenen Landsleute wie
andere Sklaven zu behandeln und sie nach auswärts zu verkaufen. — Die
Zustände waren völlig zerrüttet: die Wehrkraft in Verfall, die Adelsgeschlechter
untereinander verfeindet, die Regierung den Prytanen gegenüber ohne Macht.
Und nun wurde der Versuch eines Edelmannes, des Kylon, sich der Tyrannis
zu bemächtigen, nur dadurch niedergeschlagen, daß man die Altäre der ehrwür-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/100>, abgerufen am 18.01.2025.