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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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ziehen, über die heillose Enge ihrer Patrontaschen. Alle waren im Frieden
dicker geworden und keiner wollte sein Gewässer als Eigenthum anerkennen.
Schließlich schlichtete ein Schluck kerniges Kirschwasser den Streit. Die Mann¬
schaft, etwa dreißig oder vierzig, schwang sich auf den Schlachtwageu. Der
Schimmel zog, seines höheren Werthes bewußt, an, so gut er konnte, der Offizier
lief nebenher, so gut er konnte. Die vaterländische Geschichte war um ein
Blatt reicher und wir um eine Enttäuschung. Es wurde nichts aus dem
Madercmerthcil. Statt des Schimmels kam der Föhn.

Von Amsteg an hört aller Fahrweg zum Thal ans. Wer nicht laufen
kann, mag allenfalls reiten oder sich tragen lassen. Billig und angenehm ist
es nicht. Das Alpenkind-Hotel der Wittwe Jndergand liegt 1460 Meter hoch,
924 Meter über Amsteg. Alle Lebensmittel und Postsachen müssen ans dem
Rücken hinauf getragen werden. Einmal täglich, zwischen zwei und drei Uhr
Nachmittags, wird die gescunmte Post von droben gleichfalls auf Menschenrücken
abwärts befördert. Sennbuben und Aelpler tragen aus weit höheren Regionen
Butter, Käse und einen Centner Forellen aus dem hohen See der Golzeralv
zum Hotel hernieder. Das ist der ganze Verkehr mit der Welt, den das
Madernnerthal besitzt.

Aber der Weg in das Thal bietet selbst für Damenfüße keine großen
Schwierigkeiten, namentlich seitdem im Laufe des letzten Jahres die steilste und
durch Geröll schwierigste Partie unmittelbar hinter Amsteg dnrch die väterliche
Fürsorge einiger Wirthe und wohl auch ein bischen Regierung etwas spitzere
Winkel und breitere Anlagen gewonnen hat. Wer irgend gehen kann, der gehe
den Weg. Schon nach einem Stündchen -- wir rechnen den Damen zu Liebe
etwas reichlicher als Baedeker -- ist der ehrwürdige Alt-Kaplan vom Dorfe
Bristen erreicht, dessen kühler Jtalienerwein trefflich mündet, selbst am Friih-
morgen, wo der Marsch des Schattens halber angetreten werden sollte. Und
schon hier findet man sich auch durch die Naturschönheit für den rauhen
Marsch belohnt. So hoch thürmen sich schon hier zu beiden Seiten die Berg¬
wände, daß die Bewohner von Bristen vom Oktober bis Februar des Anblicks
der Sonne gänzlich entbehren. Der Dienst des Geistlichen ist da im Winter
oft wirklich ein aufopfernder Samariterdienst. Neun Stunden Wegs im tiefsten
Schnee hat er bei Nacht und Nebel schon zurückgelegt, um verunglückten Pfarr¬
kindern seines Sprengels hoch oben im Gebirge den Trost der letzten Oelung
und die Sterbesakramente zu spenden. Merkwürdigerweise leben sie Alle noch-
Und auch im Sommer ist er ein mildthätiger Herr. Wer bei uns im Norden
solchen Italiener für etwas über eine Mark die Flasche ausWirthen wollte,
würde einfach unter Curatel gestellt oder der Gehirnerweichung angeklagt.
Mir hat der gute Hirt, trotz meines ausgesprochenen Ketzerthnms, am letzten


ziehen, über die heillose Enge ihrer Patrontaschen. Alle waren im Frieden
dicker geworden und keiner wollte sein Gewässer als Eigenthum anerkennen.
Schließlich schlichtete ein Schluck kerniges Kirschwasser den Streit. Die Mann¬
schaft, etwa dreißig oder vierzig, schwang sich auf den Schlachtwageu. Der
Schimmel zog, seines höheren Werthes bewußt, an, so gut er konnte, der Offizier
lief nebenher, so gut er konnte. Die vaterländische Geschichte war um ein
Blatt reicher und wir um eine Enttäuschung. Es wurde nichts aus dem
Madercmerthcil. Statt des Schimmels kam der Föhn.

Von Amsteg an hört aller Fahrweg zum Thal ans. Wer nicht laufen
kann, mag allenfalls reiten oder sich tragen lassen. Billig und angenehm ist
es nicht. Das Alpenkind-Hotel der Wittwe Jndergand liegt 1460 Meter hoch,
924 Meter über Amsteg. Alle Lebensmittel und Postsachen müssen ans dem
Rücken hinauf getragen werden. Einmal täglich, zwischen zwei und drei Uhr
Nachmittags, wird die gescunmte Post von droben gleichfalls auf Menschenrücken
abwärts befördert. Sennbuben und Aelpler tragen aus weit höheren Regionen
Butter, Käse und einen Centner Forellen aus dem hohen See der Golzeralv
zum Hotel hernieder. Das ist der ganze Verkehr mit der Welt, den das
Madernnerthal besitzt.

Aber der Weg in das Thal bietet selbst für Damenfüße keine großen
Schwierigkeiten, namentlich seitdem im Laufe des letzten Jahres die steilste und
durch Geröll schwierigste Partie unmittelbar hinter Amsteg dnrch die väterliche
Fürsorge einiger Wirthe und wohl auch ein bischen Regierung etwas spitzere
Winkel und breitere Anlagen gewonnen hat. Wer irgend gehen kann, der gehe
den Weg. Schon nach einem Stündchen — wir rechnen den Damen zu Liebe
etwas reichlicher als Baedeker — ist der ehrwürdige Alt-Kaplan vom Dorfe
Bristen erreicht, dessen kühler Jtalienerwein trefflich mündet, selbst am Friih-
morgen, wo der Marsch des Schattens halber angetreten werden sollte. Und
schon hier findet man sich auch durch die Naturschönheit für den rauhen
Marsch belohnt. So hoch thürmen sich schon hier zu beiden Seiten die Berg¬
wände, daß die Bewohner von Bristen vom Oktober bis Februar des Anblicks
der Sonne gänzlich entbehren. Der Dienst des Geistlichen ist da im Winter
oft wirklich ein aufopfernder Samariterdienst. Neun Stunden Wegs im tiefsten
Schnee hat er bei Nacht und Nebel schon zurückgelegt, um verunglückten Pfarr¬
kindern seines Sprengels hoch oben im Gebirge den Trost der letzten Oelung
und die Sterbesakramente zu spenden. Merkwürdigerweise leben sie Alle noch-
Und auch im Sommer ist er ein mildthätiger Herr. Wer bei uns im Norden
solchen Italiener für etwas über eine Mark die Flasche ausWirthen wollte,
würde einfach unter Curatel gestellt oder der Gehirnerweichung angeklagt.
Mir hat der gute Hirt, trotz meines ausgesprochenen Ketzerthnms, am letzten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/474>, abgerufen am 29.09.2024.