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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Aber diese Heimatgemeinde war nicht diejenige, in welcher ihr Mann die besten
Jahre seines Lebens gearbeitet und sich nützlich gemacht hatte, sondern jenes
Luzerner Gebirgsdorf, das er als junger Bursch verlassen hatte, in dem er
zufällig geboren war, wo seine Eltern zufällig Heimatsrecht besaßen. Man
kannte ihn dort kaum mehr, als er starb; seine Wittwe und seiue Waisen
waren dort wildfremd. Aber das Gesetz sagte: "Das ist eure Heimat. Ihr
habt keine andere." Diese Gemeinde allein war uuterstützuugspslichtig, und an
sie hatte sich die Wittwe mit der Bitte gewendet, ihr eine Geldunterstützung
zu senden, damit sie ihre Kinder bei sich behalten konnte. Aber die Pflichtige
Gemeinde hatte kein Geld übrig; dagegen gab es dort Leute, die bereit waren,
der Gemeinde die Last der Erhaltung armer Waisen für Geld abzunehmen.
Wie die der Gemeinde lästigen und bis zum Tode ihres natürlichen Ernährers
völlig unbekannten Waisen bei solchen Leuten erhalten und gehalten werden,
wie sie ihre Kindheit vertrauern müssen, wie sie aufwachsen und erzogen
werden -- das sind Fragen, die des Lebens tiefstem Jammer nahetreten. Der
kleine Bub, der aus dem wildfremden Bauernhause, in dem er nun "dabei"
sein sollte, seine Mutter zur Bahn begleitet hatte, um sie für unbestimmte Zeit
nicht wiederzusehen, hatte schon mehr als eine bloße Ahnung, wie diese Fragen
beantwortet wurden. Seine kleineren Geschwister waren in den wenigen Tagen,
seit sie in die Waisenpflege gegeben worden waren, verkauft. Er selbst war
bei Zürich schon anderthalb Jahr zur Schule gegangen! Hier sollte er auf ein¬
mal alles wieder vergessen, da er das Alter, in welchem die lieben Kinder
dort oben für die Schule heranreifen, noch lange nicht besaß. In seiner
Dorfschule bei Zürich hatte er, wie seine älteren Geschwister, die einfachen und
kräftigen Glaubenssätze Zwingli's gelehrt erhalten. Hier hatte man ihm mit
höhnisch grimmigem Blick gesagt: "Man werde ihn schon katholisch zu machen
wissen."

Lange, nachdem der Zug abgefahren war, stand der arme kleine Bursch
uoch da mit ausgestreckten Armen und weinte in den sonnigen Morgen hinaus.

Unsere Freude an der herrlichen Gebirgsuatur war dnrch die erschütternde
Scene, die wir soeben erlebt und deren eben mitgetheilte Details meine Schweizer
Freunde und Reisebegleiter allmählich aus der Wittwe herausholte", wesenlich
verkümmert worden. Selbst nicht das ungewöhnlich stark ausgeprägte bernische
Staatsbewußtsein unsres Schasfuers, der stolz erklärte, auch hier, auf Luzerner
Biel, stehe er auf Berner Staatsboden, da er auf Berner Staatsgleisen fahre,
ja selbst nicht sein zum Austausch gegen unser Kirschwasser uns gegebenes
verlockendes Anerbieten, hinaus ans die hin- und herschankelnde Rampe des
Wagens zu treten, während der Zug nun in rasendem Lauf über der reißenden
Eirene dnrch Tunnels und an tiefen Gründen hin gegen Luzern hinabschoß,


Aber diese Heimatgemeinde war nicht diejenige, in welcher ihr Mann die besten
Jahre seines Lebens gearbeitet und sich nützlich gemacht hatte, sondern jenes
Luzerner Gebirgsdorf, das er als junger Bursch verlassen hatte, in dem er
zufällig geboren war, wo seine Eltern zufällig Heimatsrecht besaßen. Man
kannte ihn dort kaum mehr, als er starb; seine Wittwe und seiue Waisen
waren dort wildfremd. Aber das Gesetz sagte: „Das ist eure Heimat. Ihr
habt keine andere." Diese Gemeinde allein war uuterstützuugspslichtig, und an
sie hatte sich die Wittwe mit der Bitte gewendet, ihr eine Geldunterstützung
zu senden, damit sie ihre Kinder bei sich behalten konnte. Aber die Pflichtige
Gemeinde hatte kein Geld übrig; dagegen gab es dort Leute, die bereit waren,
der Gemeinde die Last der Erhaltung armer Waisen für Geld abzunehmen.
Wie die der Gemeinde lästigen und bis zum Tode ihres natürlichen Ernährers
völlig unbekannten Waisen bei solchen Leuten erhalten und gehalten werden,
wie sie ihre Kindheit vertrauern müssen, wie sie aufwachsen und erzogen
werden — das sind Fragen, die des Lebens tiefstem Jammer nahetreten. Der
kleine Bub, der aus dem wildfremden Bauernhause, in dem er nun „dabei"
sein sollte, seine Mutter zur Bahn begleitet hatte, um sie für unbestimmte Zeit
nicht wiederzusehen, hatte schon mehr als eine bloße Ahnung, wie diese Fragen
beantwortet wurden. Seine kleineren Geschwister waren in den wenigen Tagen,
seit sie in die Waisenpflege gegeben worden waren, verkauft. Er selbst war
bei Zürich schon anderthalb Jahr zur Schule gegangen! Hier sollte er auf ein¬
mal alles wieder vergessen, da er das Alter, in welchem die lieben Kinder
dort oben für die Schule heranreifen, noch lange nicht besaß. In seiner
Dorfschule bei Zürich hatte er, wie seine älteren Geschwister, die einfachen und
kräftigen Glaubenssätze Zwingli's gelehrt erhalten. Hier hatte man ihm mit
höhnisch grimmigem Blick gesagt: „Man werde ihn schon katholisch zu machen
wissen."

Lange, nachdem der Zug abgefahren war, stand der arme kleine Bursch
uoch da mit ausgestreckten Armen und weinte in den sonnigen Morgen hinaus.

Unsere Freude an der herrlichen Gebirgsuatur war dnrch die erschütternde
Scene, die wir soeben erlebt und deren eben mitgetheilte Details meine Schweizer
Freunde und Reisebegleiter allmählich aus der Wittwe herausholte», wesenlich
verkümmert worden. Selbst nicht das ungewöhnlich stark ausgeprägte bernische
Staatsbewußtsein unsres Schasfuers, der stolz erklärte, auch hier, auf Luzerner
Biel, stehe er auf Berner Staatsboden, da er auf Berner Staatsgleisen fahre,
ja selbst nicht sein zum Austausch gegen unser Kirschwasser uns gegebenes
verlockendes Anerbieten, hinaus ans die hin- und herschankelnde Rampe des
Wagens zu treten, während der Zug nun in rasendem Lauf über der reißenden
Eirene dnrch Tunnels und an tiefen Gründen hin gegen Luzern hinabschoß,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/440>, abgerufen am 28.09.2024.