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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Was die Kurtaxe und die damit verbundene Musiktaxe betrifft, so werden
beide je nach Rang und Vermögen des Kurgastes in drei Klassen erhoben:
1. Klasse Kurtaxe 10 si. und 5--17 si. Mnsiktaxe, 2. Klasse 6 si. und 3--8 si., 3.
Klasse 4 si. und 2--6 si. Bei dieser Stufenleiter ist der Abschätzung in eine
der drei Klassen mit ihren verschiedenen Sätzen, welche nach Gutdünken des
Magistrats erfolgt, ein ziemlich weiter Spielraum gelassen. Hier kommt nun
eine merkwürdige Seite der menschlichen Natur zum Vorschein: Während
nämlich sonst fast alle Menschen darnach streben, in den Augen ihrer Mit¬
menschen möglichst viel zu scheinen, tritt beim Kurgäste gerade das entgegengesetzte
Bestreben hervor. Sobald er in dem polizeilichen Anmeldebogen die Rubrik
"Stand und Charakter" ausfüllen soll, damit hiernach jene Abschätzung vorge¬
nommen werden könne, überkommt ihn mit einem Mal eine noch nie verspürte
Anwandlung der Bescheidenheit, ja Selbsterniedrigung. Die Knrliste, welche
fast täglich die Namen der Neuangekommenen Gäste verzeichnet, liefert hiervon
die ergötzlichsten Beispiele. Der stolze Rittergutsbesitzer, welcher daheim sich
als selbstherrlicher Magnat fühlt und geberdet, verzeichnet sich hier als einfachen
"Landwirth", der Major oder Oberst als "Offizier", der Bankier als "Ge¬
schäftsmann", der Fabrikant als "Kaufmann", worunter man nach österreichi¬
schem Sprachgebrauch eiuen Kleinhändler oder Handelsmann versteht, der
Regierungspräsident als "Beamter", der Universitätsprofessor als "Lehrer", der
hochmögende Herr Oberbürgermeister als "Kommnualbeamter". Ein Akkordion¬
fabrikant aus G. nennt sich bescheidenerweise "Drechsler", der erste Direktor
einer großen Maschinenfabrik in Ch. "Maschinenbauer". Der reiche Rentier
oder Partikulier tritt mit besonderer Vorliebe als simpler "Bürger" auf, und
so wimmelt es denn in der Kurliste von "Bürgern", "Bürgersfrauen",
sogar "Bürgerstöchtern" aus Berlin, Wien, Breslau und andern Großstädten.
Gering uur ist die Zahl derer, welche zum Schaden ihres Geldbeutels auch in
der Kurliste an ihrem angestammten "Charakter" festhalten; dann treten sie
aber auch mit dem vollen Gefühl ihrer Würde ans, wie jener "Schafwollen-
Waarenerzeuger" aus Brünn, welcher sich in der Henrigen Kurliste verewigt
hat. In Oesterreich wird bekanntlich alles "erzeugt", selbst das Mehl in den
k. k. "landesbefugten" Mühlen.

Da einmal der österreichische Sprachgebrauch berührt ist, so mögen noch
einige Absonderlichkeiten desselben erwähnt sein, welche jedem Norddeutschen
auffallen. Dabei verzichten wir jedoch darauf, etwa ein Kapitel zu behandeln,
welches zwar bei dem Kurgast alltäglich zweimal, Mittags und Abends, eine
wichtige Rolle spielt, aber trotz des eifrigsten Studiums doch immer wieder
eine unerschöpfliche Quelle der Qual für ihn ist: den österreichischen Speisezettel.
Denn dieser wird mit seinen "Pfanzerle, Büchlein, Powidln, Paschen, Takten,


Was die Kurtaxe und die damit verbundene Musiktaxe betrifft, so werden
beide je nach Rang und Vermögen des Kurgastes in drei Klassen erhoben:
1. Klasse Kurtaxe 10 si. und 5--17 si. Mnsiktaxe, 2. Klasse 6 si. und 3—8 si., 3.
Klasse 4 si. und 2—6 si. Bei dieser Stufenleiter ist der Abschätzung in eine
der drei Klassen mit ihren verschiedenen Sätzen, welche nach Gutdünken des
Magistrats erfolgt, ein ziemlich weiter Spielraum gelassen. Hier kommt nun
eine merkwürdige Seite der menschlichen Natur zum Vorschein: Während
nämlich sonst fast alle Menschen darnach streben, in den Augen ihrer Mit¬
menschen möglichst viel zu scheinen, tritt beim Kurgäste gerade das entgegengesetzte
Bestreben hervor. Sobald er in dem polizeilichen Anmeldebogen die Rubrik
„Stand und Charakter" ausfüllen soll, damit hiernach jene Abschätzung vorge¬
nommen werden könne, überkommt ihn mit einem Mal eine noch nie verspürte
Anwandlung der Bescheidenheit, ja Selbsterniedrigung. Die Knrliste, welche
fast täglich die Namen der Neuangekommenen Gäste verzeichnet, liefert hiervon
die ergötzlichsten Beispiele. Der stolze Rittergutsbesitzer, welcher daheim sich
als selbstherrlicher Magnat fühlt und geberdet, verzeichnet sich hier als einfachen
„Landwirth", der Major oder Oberst als „Offizier", der Bankier als „Ge¬
schäftsmann", der Fabrikant als „Kaufmann", worunter man nach österreichi¬
schem Sprachgebrauch eiuen Kleinhändler oder Handelsmann versteht, der
Regierungspräsident als „Beamter", der Universitätsprofessor als „Lehrer", der
hochmögende Herr Oberbürgermeister als „Kommnualbeamter". Ein Akkordion¬
fabrikant aus G. nennt sich bescheidenerweise „Drechsler", der erste Direktor
einer großen Maschinenfabrik in Ch. „Maschinenbauer". Der reiche Rentier
oder Partikulier tritt mit besonderer Vorliebe als simpler „Bürger" auf, und
so wimmelt es denn in der Kurliste von „Bürgern", „Bürgersfrauen",
sogar „Bürgerstöchtern" aus Berlin, Wien, Breslau und andern Großstädten.
Gering uur ist die Zahl derer, welche zum Schaden ihres Geldbeutels auch in
der Kurliste an ihrem angestammten „Charakter" festhalten; dann treten sie
aber auch mit dem vollen Gefühl ihrer Würde ans, wie jener „Schafwollen-
Waarenerzeuger" aus Brünn, welcher sich in der Henrigen Kurliste verewigt
hat. In Oesterreich wird bekanntlich alles „erzeugt", selbst das Mehl in den
k. k. „landesbefugten" Mühlen.

Da einmal der österreichische Sprachgebrauch berührt ist, so mögen noch
einige Absonderlichkeiten desselben erwähnt sein, welche jedem Norddeutschen
auffallen. Dabei verzichten wir jedoch darauf, etwa ein Kapitel zu behandeln,
welches zwar bei dem Kurgast alltäglich zweimal, Mittags und Abends, eine
wichtige Rolle spielt, aber trotz des eifrigsten Studiums doch immer wieder
eine unerschöpfliche Quelle der Qual für ihn ist: den österreichischen Speisezettel.
Denn dieser wird mit seinen „Pfanzerle, Büchlein, Powidln, Paschen, Takten,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/400>, abgerufen am 29.09.2024.