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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Charaktereigeuthümlichkeit spitzer's, die ihm von uns cun höchsten angerechnet
wird, und die ihn namentlich sehr erheblich höher stellt, als die Gelehrten des
"Kladderadatsch" und andere Mitglieder der Berliner Zunft für politische
Satire: in seiner kühnen und rücksichtslosen Meinungsäußerung, gleichviel ob
er das werthlose Ding, das sich öffentliche Meinung nennt, auf seiner Seite
hat oder nicht. Wenn man die früher gesammelten Feuilletons spitzer's^)
durchblättert, so erstaunt man, was dieser Arbeiter "unterm Strich" nicht blos
dem Publikum, sondern auch der Regierung und selbst den bekannten entgegen¬
gesetzten Ansichten der Administration und Redaktion des Blattes, für das er
schrieb, zu bieten wagte. Die einzige Konzession, die er den "berechtigten Eigen¬
thümlichkeiten" seiner lebenslustigen und an des Lebens Hautgout gewöhnten
Mitbürgern macht, besteht in einer nicht häufig, aber doch gelegentlich und
mit Behagen angebrachten Zweideutigkeit. Aber niemals huldigt er dem poli¬
tischen Bierphilisterium der öffentlichen Meinung. In dieser Hinsicht dürften
sich gewisse norddeutsche Witzblätter, die es lieben, mindestens alle Vierteljahre
einmal mit den vielen Tausenden ihrer Abonnenten zu kokettiren, durchaus ein
Muster an spitzer nehmen. Nichts traurigeres, als das älteste dieser "Organe
für Humor und Satire" in den Zeiten zu lesen, wo jener überlebte Unver¬
stand, der sich die politische Weisheit der deutschen Fortschrittspartei nennt
und der darum co ipso das Evangelium der Bürgerkreise der deutschen Haupt¬
stadt bildet, sich in Gegensatz stellt zu den natürlichen und gefunden Anforde¬
rungen der Nation. Dann sucht das Berliner Witzblatt die Vertheidiger der
nationalen Forderungen und Anschauungen nicht weniger schmachvoll und bos¬
haft zu verunglimpfen als der socialdemokratische "Vorwärts". Wir haben
das bei jedem entscheidenden Schritte erlebt, den wir in den letzten Jahren
nach vorwärts gethan haben: beim Strafgesetzbuch wie bei dem eisernen Mili¬
täretat und bei den Justizgesetzen. In dieser Hinsicht wäre es besser, das
Blatt so zu nennen, wie es ursprünglich selbst sich nannte, ein Organ "von
und für Krakehler."

Ganz anders spitzer. Schon in den Tagen, da es über dem Strich
des Blattes, für das er schreibt, und in ganz Wien noch zum guten Ton ge¬
hörte, sich über die "affenähnliche Geschwindigkeit" der Preußen im böhmischen
Feldzuge lustig zu machen, hat spitzer die Mängel der österreichischen Heer-
führung, die schweren Fehler der Staatsleitnng seines Vaterlandes unbarm¬
herzig gegeißelt und in -- bei ihm leider so seltenen -- Worten begeisterter
Erhebung klar vorausahnend darauf hingewiesen, daß die schweren Nieder¬
lagen auf den böhmischen Schlachtfeldern dem wahren Wohle der Monarchie



*) Wiener Spaziergänge, 1. und 2. Bd., Wie". L- Rosner, neueste Auflage 1377.

Charaktereigeuthümlichkeit spitzer's, die ihm von uns cun höchsten angerechnet
wird, und die ihn namentlich sehr erheblich höher stellt, als die Gelehrten des
„Kladderadatsch" und andere Mitglieder der Berliner Zunft für politische
Satire: in seiner kühnen und rücksichtslosen Meinungsäußerung, gleichviel ob
er das werthlose Ding, das sich öffentliche Meinung nennt, auf seiner Seite
hat oder nicht. Wenn man die früher gesammelten Feuilletons spitzer's^)
durchblättert, so erstaunt man, was dieser Arbeiter „unterm Strich" nicht blos
dem Publikum, sondern auch der Regierung und selbst den bekannten entgegen¬
gesetzten Ansichten der Administration und Redaktion des Blattes, für das er
schrieb, zu bieten wagte. Die einzige Konzession, die er den „berechtigten Eigen¬
thümlichkeiten" seiner lebenslustigen und an des Lebens Hautgout gewöhnten
Mitbürgern macht, besteht in einer nicht häufig, aber doch gelegentlich und
mit Behagen angebrachten Zweideutigkeit. Aber niemals huldigt er dem poli¬
tischen Bierphilisterium der öffentlichen Meinung. In dieser Hinsicht dürften
sich gewisse norddeutsche Witzblätter, die es lieben, mindestens alle Vierteljahre
einmal mit den vielen Tausenden ihrer Abonnenten zu kokettiren, durchaus ein
Muster an spitzer nehmen. Nichts traurigeres, als das älteste dieser „Organe
für Humor und Satire" in den Zeiten zu lesen, wo jener überlebte Unver¬
stand, der sich die politische Weisheit der deutschen Fortschrittspartei nennt
und der darum co ipso das Evangelium der Bürgerkreise der deutschen Haupt¬
stadt bildet, sich in Gegensatz stellt zu den natürlichen und gefunden Anforde¬
rungen der Nation. Dann sucht das Berliner Witzblatt die Vertheidiger der
nationalen Forderungen und Anschauungen nicht weniger schmachvoll und bos¬
haft zu verunglimpfen als der socialdemokratische „Vorwärts". Wir haben
das bei jedem entscheidenden Schritte erlebt, den wir in den letzten Jahren
nach vorwärts gethan haben: beim Strafgesetzbuch wie bei dem eisernen Mili¬
täretat und bei den Justizgesetzen. In dieser Hinsicht wäre es besser, das
Blatt so zu nennen, wie es ursprünglich selbst sich nannte, ein Organ „von
und für Krakehler."

Ganz anders spitzer. Schon in den Tagen, da es über dem Strich
des Blattes, für das er schreibt, und in ganz Wien noch zum guten Ton ge¬
hörte, sich über die „affenähnliche Geschwindigkeit" der Preußen im böhmischen
Feldzuge lustig zu machen, hat spitzer die Mängel der österreichischen Heer-
führung, die schweren Fehler der Staatsleitnng seines Vaterlandes unbarm¬
herzig gegeißelt und in — bei ihm leider so seltenen — Worten begeisterter
Erhebung klar vorausahnend darauf hingewiesen, daß die schweren Nieder¬
lagen auf den böhmischen Schlachtfeldern dem wahren Wohle der Monarchie



*) Wiener Spaziergänge, 1. und 2. Bd., Wie». L- Rosner, neueste Auflage 1377.
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[0323] Charaktereigeuthümlichkeit spitzer's, die ihm von uns cun höchsten angerechnet wird, und die ihn namentlich sehr erheblich höher stellt, als die Gelehrten des „Kladderadatsch" und andere Mitglieder der Berliner Zunft für politische Satire: in seiner kühnen und rücksichtslosen Meinungsäußerung, gleichviel ob er das werthlose Ding, das sich öffentliche Meinung nennt, auf seiner Seite hat oder nicht. Wenn man die früher gesammelten Feuilletons spitzer's^) durchblättert, so erstaunt man, was dieser Arbeiter „unterm Strich" nicht blos dem Publikum, sondern auch der Regierung und selbst den bekannten entgegen¬ gesetzten Ansichten der Administration und Redaktion des Blattes, für das er schrieb, zu bieten wagte. Die einzige Konzession, die er den „berechtigten Eigen¬ thümlichkeiten" seiner lebenslustigen und an des Lebens Hautgout gewöhnten Mitbürgern macht, besteht in einer nicht häufig, aber doch gelegentlich und mit Behagen angebrachten Zweideutigkeit. Aber niemals huldigt er dem poli¬ tischen Bierphilisterium der öffentlichen Meinung. In dieser Hinsicht dürften sich gewisse norddeutsche Witzblätter, die es lieben, mindestens alle Vierteljahre einmal mit den vielen Tausenden ihrer Abonnenten zu kokettiren, durchaus ein Muster an spitzer nehmen. Nichts traurigeres, als das älteste dieser „Organe für Humor und Satire" in den Zeiten zu lesen, wo jener überlebte Unver¬ stand, der sich die politische Weisheit der deutschen Fortschrittspartei nennt und der darum co ipso das Evangelium der Bürgerkreise der deutschen Haupt¬ stadt bildet, sich in Gegensatz stellt zu den natürlichen und gefunden Anforde¬ rungen der Nation. Dann sucht das Berliner Witzblatt die Vertheidiger der nationalen Forderungen und Anschauungen nicht weniger schmachvoll und bos¬ haft zu verunglimpfen als der socialdemokratische „Vorwärts". Wir haben das bei jedem entscheidenden Schritte erlebt, den wir in den letzten Jahren nach vorwärts gethan haben: beim Strafgesetzbuch wie bei dem eisernen Mili¬ täretat und bei den Justizgesetzen. In dieser Hinsicht wäre es besser, das Blatt so zu nennen, wie es ursprünglich selbst sich nannte, ein Organ „von und für Krakehler." Ganz anders spitzer. Schon in den Tagen, da es über dem Strich des Blattes, für das er schreibt, und in ganz Wien noch zum guten Ton ge¬ hörte, sich über die „affenähnliche Geschwindigkeit" der Preußen im böhmischen Feldzuge lustig zu machen, hat spitzer die Mängel der österreichischen Heer- führung, die schweren Fehler der Staatsleitnng seines Vaterlandes unbarm¬ herzig gegeißelt und in — bei ihm leider so seltenen — Worten begeisterter Erhebung klar vorausahnend darauf hingewiesen, daß die schweren Nieder¬ lagen auf den böhmischen Schlachtfeldern dem wahren Wohle der Monarchie *) Wiener Spaziergänge, 1. und 2. Bd., Wie». L- Rosner, neueste Auflage 1377.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/323>, abgerufen am 28.09.2024.