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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Abt blieben zurück. Da erfuhr der heilige Seefahrer, daß die einsamen
Mönche seit achtzig Jahren, wo sie die Insel erreicht, niemals eine Menschen¬
stimme gehört hatten, ausgenommen, wo sie in gemeinsamem Lobgesange den
Herrn gepriesen; sonst hatten sie nur durch Blick und Geberde mit einander
verkehrt. Wie Sankt Brandau und der greise Abt aber noch mit einander
sprachen, fuhr ein Pfeil durch das Fenster und entzündete die Leuchter auf den
Altären, worauf er auf dem Wege, auf dem er gekommen, wieder zurückkehrte;
der Abt aber belehrte seinen Gast, daß die Kerzen ihr Licht spendeten, ohne
sich zu verzehren, und daß auch am Morgen keine Asche zurückbleibe wie bei
einer körperlichen Flamme.

Auf der Insel Anbey verblieb der Odosseus der Mönchslegende bis zum
Weihnnchtsfeste, Dann beginnt er seine Fahrt von Neuem, und zwar dießmal
gegen Norden, wo ihm wieder allerlei Wunder und Gefahren begegnen. An
einer Stelle überfällt die Schiffsleute eine Windstille, die drei Tage und drei
Nächte dauert, und bei der die See aus Mangel an Bewegung wie geronnen
erscheint. Ein anderes Mal wollen Meerungethüme das Fahrzeug des Heili¬
gen verschlingen, bis sie von andern Bestien verscheucht worden. Wieder an
einem anderen Tage werden die Jrrfahrer von dem großen Vogel Greif be¬
droht. Einmal landen sie an einer Insel "ganz bedeckt mit dichtem Buschwerk
und behängen mit Trauben in unglaublicher Fülle, sodaß alle Zweige von der
Last zu Boden gezogen werden", u. s. w. Einmal trifft der seefahrende Abt
ans einen elenden Menschen an einer Klippe, dem die Wogen des Meeres ab
und zu wallend den Scheitel nässen, während ein Tuch, welches vor ihm hängt,
vom Wiude beständig gegen sein Gesicht und seine Augen gepeitscht wird. Der
so Gepeinigte gibt sich als der Ewige Jude zu erkennen, der nach seiner Aus¬
sage an Sonn- und Feiertagen "zur Erfrischung" an jenem Orte weilen darf.
Die Lage selbst kommt ihm wie ein Paradies voll Genuß vor; "denn", sagt
er, "wenn ich in Pein schwebe, glühe ich Tag und Nacht wie eine Masse
flüssiges Blei."

Endlich, nach siebenjährigen Umherschweifen von einer Meeresgegend nach
der andern, erreichte Sankt Brandanus das Land der Verheißung. Ein
dichter Nebel hatte vorher das Schiff eingehüllt, sodaß die Reisenden sich ein¬
ander nicht mehr sehen konnten. Das Land selbst erschien ihnen als Insel,
aber soweit sie auch wanderten, konnten sie doch kein Ende finden. Ein un¬
unterbrochener Tag leuchtete über den Gefilden, und die Baume waren lustig
mit Früchten gesegnet, als ob es hier ewig Herbst wäre. Am vierzigsten
Tage setzte ein breiter Fluß ihren weiteren Wanderungen ein Ziel, und hier
begegnete ihnen ein Bote in Gestalt eines glänzenden Jünglings, der ihnen
sagte, sie sollten nunmehr heimkehren, vorher aber ihr Schiff mit Früchten


Abt blieben zurück. Da erfuhr der heilige Seefahrer, daß die einsamen
Mönche seit achtzig Jahren, wo sie die Insel erreicht, niemals eine Menschen¬
stimme gehört hatten, ausgenommen, wo sie in gemeinsamem Lobgesange den
Herrn gepriesen; sonst hatten sie nur durch Blick und Geberde mit einander
verkehrt. Wie Sankt Brandau und der greise Abt aber noch mit einander
sprachen, fuhr ein Pfeil durch das Fenster und entzündete die Leuchter auf den
Altären, worauf er auf dem Wege, auf dem er gekommen, wieder zurückkehrte;
der Abt aber belehrte seinen Gast, daß die Kerzen ihr Licht spendeten, ohne
sich zu verzehren, und daß auch am Morgen keine Asche zurückbleibe wie bei
einer körperlichen Flamme.

Auf der Insel Anbey verblieb der Odosseus der Mönchslegende bis zum
Weihnnchtsfeste, Dann beginnt er seine Fahrt von Neuem, und zwar dießmal
gegen Norden, wo ihm wieder allerlei Wunder und Gefahren begegnen. An
einer Stelle überfällt die Schiffsleute eine Windstille, die drei Tage und drei
Nächte dauert, und bei der die See aus Mangel an Bewegung wie geronnen
erscheint. Ein anderes Mal wollen Meerungethüme das Fahrzeug des Heili¬
gen verschlingen, bis sie von andern Bestien verscheucht worden. Wieder an
einem anderen Tage werden die Jrrfahrer von dem großen Vogel Greif be¬
droht. Einmal landen sie an einer Insel „ganz bedeckt mit dichtem Buschwerk
und behängen mit Trauben in unglaublicher Fülle, sodaß alle Zweige von der
Last zu Boden gezogen werden", u. s. w. Einmal trifft der seefahrende Abt
ans einen elenden Menschen an einer Klippe, dem die Wogen des Meeres ab
und zu wallend den Scheitel nässen, während ein Tuch, welches vor ihm hängt,
vom Wiude beständig gegen sein Gesicht und seine Augen gepeitscht wird. Der
so Gepeinigte gibt sich als der Ewige Jude zu erkennen, der nach seiner Aus¬
sage an Sonn- und Feiertagen „zur Erfrischung" an jenem Orte weilen darf.
Die Lage selbst kommt ihm wie ein Paradies voll Genuß vor; „denn", sagt
er, „wenn ich in Pein schwebe, glühe ich Tag und Nacht wie eine Masse
flüssiges Blei."

Endlich, nach siebenjährigen Umherschweifen von einer Meeresgegend nach
der andern, erreichte Sankt Brandanus das Land der Verheißung. Ein
dichter Nebel hatte vorher das Schiff eingehüllt, sodaß die Reisenden sich ein¬
ander nicht mehr sehen konnten. Das Land selbst erschien ihnen als Insel,
aber soweit sie auch wanderten, konnten sie doch kein Ende finden. Ein un¬
unterbrochener Tag leuchtete über den Gefilden, und die Baume waren lustig
mit Früchten gesegnet, als ob es hier ewig Herbst wäre. Am vierzigsten
Tage setzte ein breiter Fluß ihren weiteren Wanderungen ein Ziel, und hier
begegnete ihnen ein Bote in Gestalt eines glänzenden Jünglings, der ihnen
sagte, sie sollten nunmehr heimkehren, vorher aber ihr Schiff mit Früchten


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[0282] Abt blieben zurück. Da erfuhr der heilige Seefahrer, daß die einsamen Mönche seit achtzig Jahren, wo sie die Insel erreicht, niemals eine Menschen¬ stimme gehört hatten, ausgenommen, wo sie in gemeinsamem Lobgesange den Herrn gepriesen; sonst hatten sie nur durch Blick und Geberde mit einander verkehrt. Wie Sankt Brandau und der greise Abt aber noch mit einander sprachen, fuhr ein Pfeil durch das Fenster und entzündete die Leuchter auf den Altären, worauf er auf dem Wege, auf dem er gekommen, wieder zurückkehrte; der Abt aber belehrte seinen Gast, daß die Kerzen ihr Licht spendeten, ohne sich zu verzehren, und daß auch am Morgen keine Asche zurückbleibe wie bei einer körperlichen Flamme. Auf der Insel Anbey verblieb der Odosseus der Mönchslegende bis zum Weihnnchtsfeste, Dann beginnt er seine Fahrt von Neuem, und zwar dießmal gegen Norden, wo ihm wieder allerlei Wunder und Gefahren begegnen. An einer Stelle überfällt die Schiffsleute eine Windstille, die drei Tage und drei Nächte dauert, und bei der die See aus Mangel an Bewegung wie geronnen erscheint. Ein anderes Mal wollen Meerungethüme das Fahrzeug des Heili¬ gen verschlingen, bis sie von andern Bestien verscheucht worden. Wieder an einem anderen Tage werden die Jrrfahrer von dem großen Vogel Greif be¬ droht. Einmal landen sie an einer Insel „ganz bedeckt mit dichtem Buschwerk und behängen mit Trauben in unglaublicher Fülle, sodaß alle Zweige von der Last zu Boden gezogen werden", u. s. w. Einmal trifft der seefahrende Abt ans einen elenden Menschen an einer Klippe, dem die Wogen des Meeres ab und zu wallend den Scheitel nässen, während ein Tuch, welches vor ihm hängt, vom Wiude beständig gegen sein Gesicht und seine Augen gepeitscht wird. Der so Gepeinigte gibt sich als der Ewige Jude zu erkennen, der nach seiner Aus¬ sage an Sonn- und Feiertagen „zur Erfrischung" an jenem Orte weilen darf. Die Lage selbst kommt ihm wie ein Paradies voll Genuß vor; „denn", sagt er, „wenn ich in Pein schwebe, glühe ich Tag und Nacht wie eine Masse flüssiges Blei." Endlich, nach siebenjährigen Umherschweifen von einer Meeresgegend nach der andern, erreichte Sankt Brandanus das Land der Verheißung. Ein dichter Nebel hatte vorher das Schiff eingehüllt, sodaß die Reisenden sich ein¬ ander nicht mehr sehen konnten. Das Land selbst erschien ihnen als Insel, aber soweit sie auch wanderten, konnten sie doch kein Ende finden. Ein un¬ unterbrochener Tag leuchtete über den Gefilden, und die Baume waren lustig mit Früchten gesegnet, als ob es hier ewig Herbst wäre. Am vierzigsten Tage setzte ein breiter Fluß ihren weiteren Wanderungen ein Ziel, und hier begegnete ihnen ein Bote in Gestalt eines glänzenden Jünglings, der ihnen sagte, sie sollten nunmehr heimkehren, vorher aber ihr Schiff mit Früchten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/282>, abgerufen am 01.10.2024.