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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Holland die spanischen Ketten abgeschüttelt und in dem politischen Völkereon-
certe Europas seinen Platz sich gewonnen, erwachten auf dem Boden einer
maßvoll-freisinnigen Verfassung, auf der Unterlage eines gewaltigen, über See
ins Mutterland sich ergießenden Reichthums und unter den Segnungen einer
edlen Toleranz die in der Nation schlummernden Kräfte zum blühendsten Ge¬
deihen. Bis zum Jahre 1587 sind ihm bereits seine größten Dichter geboren,
an deren Namen sich die Blüthe und der Verfall ihrer Literatur knüpft. Phi¬
lipp van Marnix, ein flämischer Rabelais, schuf den Freistaaten eine neue
Prosa, und Samuel Coster, der Dichter, hatte in Amsterdam den literarischen
Bestrebungen noch nicht lange ihren Mittelpunkt in der "Kammer In I.leed<z
Llooi^nat (in Liebe blühend)" gegeben, als Peter Corneliszoon Hooft, "der
Vater der holländischen Poesie" sich unter deren Mitglieder aufnehmen ließ;
ein vollblütiger Renaissaneedichter bot er feinen kühlen Landsleuten, den "Ver¬
standesfanatikern", die sinnlich schöne Form des Südens, die er in Italien
Sannazarro abgelernt, in seinem Pastoraldrama "Granida" und in den Tragö¬
dien "Gcraardt van Velzen" und "Baeto"; und in dem Liede ans die Nachti¬
gall schlug die "unglückliche Dichterin" Tesselschade Visscher lyrische Accorde nach
den Shelley'schen Melodien der Skylark an; Bretero wurde mit der Einführung
des Lustspiels der Ben Jonson Hollands, und Kath schenkte seinem beglückten
Vaterlande in seinen Lehr- und allegorischen Gedichten jene Hauspoesie, die
uus Teniers' Pinsel so köstlich auf der Leinwand bietet. Alle Kräfte aber
poetischen Empfindens und gestaltungsreichen Erfinders treten in dem hoch-
bedeutenden Talente Joost van den Vorbei's zu Tage. Eine Geschichte seines
Lebens wäre eine Geschichte der auf- und niedergehenden Literatur Hollands:
in so raschen Wellen verlaufen die damals kräftig pulsierenden Strömungen
des nationalen Geisteslebens.

Ans deutschem Boden, in Cöln, am 17. November 1587 geboren und im
hohen Alter von 92 Jahren gestorben, hat Vorbei, mur dem unerschöpflichen
Lope ti Vega an Productivität nachstehend, fast alle Literatnrzweige dnrch die
Schöpfungen seines Geistes bereichert. Nicht weniger als 42 Dramen enthält
Lennep's Prachtausgabe; erhalten haben sich in der öffentlichen Gunst vor den
andern nur die vou Wilde übersetzten "Gijsbrecht" und das biblische Drama
"Lucifer". Das erstere wurde das Eröffnungsstück des ersten öffentlichen Theaters
in Amsterdam 1637; der "Lucifer" erschien 1654 (also 13 Jahre vor Milton's
"Verlorenem Paradies"), kam unter großartiger Samischer Ausstattung zur Auf¬
führung, verursachte aber trotz der (von Wilde mit abgedruckten) entschuldi¬
genden Einleitung ein so peinliches, provocirendes Aussehn und solche Kosten,
daß er nach dem zweiten Abende zurückgezogen wurde. Nun druckte ihn Vorbei
und verkaufte die erste Auflage von 1000 Exemplaren innerhalb einer Woche.


Holland die spanischen Ketten abgeschüttelt und in dem politischen Völkereon-
certe Europas seinen Platz sich gewonnen, erwachten auf dem Boden einer
maßvoll-freisinnigen Verfassung, auf der Unterlage eines gewaltigen, über See
ins Mutterland sich ergießenden Reichthums und unter den Segnungen einer
edlen Toleranz die in der Nation schlummernden Kräfte zum blühendsten Ge¬
deihen. Bis zum Jahre 1587 sind ihm bereits seine größten Dichter geboren,
an deren Namen sich die Blüthe und der Verfall ihrer Literatur knüpft. Phi¬
lipp van Marnix, ein flämischer Rabelais, schuf den Freistaaten eine neue
Prosa, und Samuel Coster, der Dichter, hatte in Amsterdam den literarischen
Bestrebungen noch nicht lange ihren Mittelpunkt in der „Kammer In I.leed<z
Llooi^nat (in Liebe blühend)" gegeben, als Peter Corneliszoon Hooft, „der
Vater der holländischen Poesie" sich unter deren Mitglieder aufnehmen ließ;
ein vollblütiger Renaissaneedichter bot er feinen kühlen Landsleuten, den „Ver¬
standesfanatikern", die sinnlich schöne Form des Südens, die er in Italien
Sannazarro abgelernt, in seinem Pastoraldrama „Granida" und in den Tragö¬
dien „Gcraardt van Velzen" und „Baeto"; und in dem Liede ans die Nachti¬
gall schlug die „unglückliche Dichterin" Tesselschade Visscher lyrische Accorde nach
den Shelley'schen Melodien der Skylark an; Bretero wurde mit der Einführung
des Lustspiels der Ben Jonson Hollands, und Kath schenkte seinem beglückten
Vaterlande in seinen Lehr- und allegorischen Gedichten jene Hauspoesie, die
uus Teniers' Pinsel so köstlich auf der Leinwand bietet. Alle Kräfte aber
poetischen Empfindens und gestaltungsreichen Erfinders treten in dem hoch-
bedeutenden Talente Joost van den Vorbei's zu Tage. Eine Geschichte seines
Lebens wäre eine Geschichte der auf- und niedergehenden Literatur Hollands:
in so raschen Wellen verlaufen die damals kräftig pulsierenden Strömungen
des nationalen Geisteslebens.

Ans deutschem Boden, in Cöln, am 17. November 1587 geboren und im
hohen Alter von 92 Jahren gestorben, hat Vorbei, mur dem unerschöpflichen
Lope ti Vega an Productivität nachstehend, fast alle Literatnrzweige dnrch die
Schöpfungen seines Geistes bereichert. Nicht weniger als 42 Dramen enthält
Lennep's Prachtausgabe; erhalten haben sich in der öffentlichen Gunst vor den
andern nur die vou Wilde übersetzten „Gijsbrecht" und das biblische Drama
„Lucifer". Das erstere wurde das Eröffnungsstück des ersten öffentlichen Theaters
in Amsterdam 1637; der „Lucifer" erschien 1654 (also 13 Jahre vor Milton's
„Verlorenem Paradies"), kam unter großartiger Samischer Ausstattung zur Auf¬
führung, verursachte aber trotz der (von Wilde mit abgedruckten) entschuldi¬
genden Einleitung ein so peinliches, provocirendes Aussehn und solche Kosten,
daß er nach dem zweiten Abende zurückgezogen wurde. Nun druckte ihn Vorbei
und verkaufte die erste Auflage von 1000 Exemplaren innerhalb einer Woche.


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[0252] Holland die spanischen Ketten abgeschüttelt und in dem politischen Völkereon- certe Europas seinen Platz sich gewonnen, erwachten auf dem Boden einer maßvoll-freisinnigen Verfassung, auf der Unterlage eines gewaltigen, über See ins Mutterland sich ergießenden Reichthums und unter den Segnungen einer edlen Toleranz die in der Nation schlummernden Kräfte zum blühendsten Ge¬ deihen. Bis zum Jahre 1587 sind ihm bereits seine größten Dichter geboren, an deren Namen sich die Blüthe und der Verfall ihrer Literatur knüpft. Phi¬ lipp van Marnix, ein flämischer Rabelais, schuf den Freistaaten eine neue Prosa, und Samuel Coster, der Dichter, hatte in Amsterdam den literarischen Bestrebungen noch nicht lange ihren Mittelpunkt in der „Kammer In I.leed<z Llooi^nat (in Liebe blühend)" gegeben, als Peter Corneliszoon Hooft, „der Vater der holländischen Poesie" sich unter deren Mitglieder aufnehmen ließ; ein vollblütiger Renaissaneedichter bot er feinen kühlen Landsleuten, den „Ver¬ standesfanatikern", die sinnlich schöne Form des Südens, die er in Italien Sannazarro abgelernt, in seinem Pastoraldrama „Granida" und in den Tragö¬ dien „Gcraardt van Velzen" und „Baeto"; und in dem Liede ans die Nachti¬ gall schlug die „unglückliche Dichterin" Tesselschade Visscher lyrische Accorde nach den Shelley'schen Melodien der Skylark an; Bretero wurde mit der Einführung des Lustspiels der Ben Jonson Hollands, und Kath schenkte seinem beglückten Vaterlande in seinen Lehr- und allegorischen Gedichten jene Hauspoesie, die uus Teniers' Pinsel so köstlich auf der Leinwand bietet. Alle Kräfte aber poetischen Empfindens und gestaltungsreichen Erfinders treten in dem hoch- bedeutenden Talente Joost van den Vorbei's zu Tage. Eine Geschichte seines Lebens wäre eine Geschichte der auf- und niedergehenden Literatur Hollands: in so raschen Wellen verlaufen die damals kräftig pulsierenden Strömungen des nationalen Geisteslebens. Ans deutschem Boden, in Cöln, am 17. November 1587 geboren und im hohen Alter von 92 Jahren gestorben, hat Vorbei, mur dem unerschöpflichen Lope ti Vega an Productivität nachstehend, fast alle Literatnrzweige dnrch die Schöpfungen seines Geistes bereichert. Nicht weniger als 42 Dramen enthält Lennep's Prachtausgabe; erhalten haben sich in der öffentlichen Gunst vor den andern nur die vou Wilde übersetzten „Gijsbrecht" und das biblische Drama „Lucifer". Das erstere wurde das Eröffnungsstück des ersten öffentlichen Theaters in Amsterdam 1637; der „Lucifer" erschien 1654 (also 13 Jahre vor Milton's „Verlorenem Paradies"), kam unter großartiger Samischer Ausstattung zur Auf¬ führung, verursachte aber trotz der (von Wilde mit abgedruckten) entschuldi¬ genden Einleitung ein so peinliches, provocirendes Aussehn und solche Kosten, daß er nach dem zweiten Abende zurückgezogen wurde. Nun druckte ihn Vorbei und verkaufte die erste Auflage von 1000 Exemplaren innerhalb einer Woche.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/252>, abgerufen am 29.09.2024.