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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Seiten der liberalen Kammerpartei und Presse, um auch die vis mei-dia." der
Klerikalen aufzurütteln und sie ein rascheres Tempo anschlagen zu lassen. Auch
die Formularien Hütten aufhalten können. Der Landtag war im Juli vorigen
Jahres geschlossen worden, also Neuwahl und Neuconstituirung des Bureaus
und der ständigen Ausschüsse nöthig. Sonst gingen auch darauf mehrere Tage
hin. Aber diesmal war man schon am zweiten nach der Eröffnung mit
Allem fertig. Eine Thronrede fehlte anch diesmal, wie schon seit 1870. Der
König hat, was man ihm im Grunde nicht verdenken kann, keine Lust mehr,
mit der Landesvertretung in ihrer dermaligen Zusammensetzung und Gestalt
persönlich zu conferiren; er weiß, daß eine Thronrede nur eine Adresse hervor¬
rufen und denselben Staub aufwirbeln würde, der vor zwei Jahren unsern
Horizont umdüstert hat. So hat denn, wie herkömmlich, sein Oheim, Prinz
Luitpold, die Eröffnungseeremonie vorgenommen, mit viel mittelalterlichen, ver¬
altetem Pomp und Gepränge und darum um so geringerer Betheiligung des
Volkes, selbst der Mitglieder beider Kammern. Man ist eben in Bayern noch
nicht so weit, wie in Preußen und im Reichstage. Kann dort der Monarch
nicht in Person erscheinen, so verliest der Minister die königliche Botschaft,
während hier Hofstaat, Kürassiere, Hartschiere, Marstall u. a. herangezogen
werden, um ein allerdings glänzendes Schauspiel in Scene zu setzen, das nach
kaum einer Viertelstunde vorüber ist.

Seit dem Schlüsse der letzten Session und namentlich seit der letzten
Reichstagswahl hatten sich innerhalb der klerikalen Partei mancherlei häusliche
Zwistigkeiten abgespielt, und sie trat diesmal nicht so einig wie früher auf den
parlamentarischen Schauplatz. Namentlich der bisher unwidersprochenen, wenn
auch vielleicht im Stillen seit länger schon widerwillig getragenen Führung
Jörg's war man von Seiten gewisser extremer gerichteter Elemente überdrüssig
geworden; wir haben unsers Wissens früher schon mitgetheilt, daß man ihn
und seine dermalige politische Stellung derjenigen Döllinger's auf dem kirchlichen
Gebiete verglich. 'Sigl fuhr in seinem "Vaterland" fort, mit unbarmherzigen
Spotte den Redakteur der "gelben Blätter" nicht minder wie die Partei des
sogenannten "katholischen Casinos" zu verfolgen. In den Provinzen lagen
sich die nltrcunontanen Blätter so gut wie in der Hauptstadt in den Haaren,
und ein hervorragendes Mitglied der "Entschiedener," der Abgeordnete und
Priester, Dr. Ratzinger, schämte sich nicht, einen skandalösen, gegen ihn von einer
oberbayrischen Kellnerin angestrengten Prozeß bis zum obersten Gerichtshof zu
treiben: kurz, es war Alles dazu angethan, daß man hätte glauben können,
die bisher so hoch gehaltene und stramm durchgeführte Unerschütterlichkeit der
ultramontanen Phalanx könnte diesmal wirklich einen kleinen Stoß erhalten,
es könnte sich aus der schwarzen, sest gekitteten Mauer ein Steinchen loslösen


Seiten der liberalen Kammerpartei und Presse, um auch die vis mei-dia.« der
Klerikalen aufzurütteln und sie ein rascheres Tempo anschlagen zu lassen. Auch
die Formularien Hütten aufhalten können. Der Landtag war im Juli vorigen
Jahres geschlossen worden, also Neuwahl und Neuconstituirung des Bureaus
und der ständigen Ausschüsse nöthig. Sonst gingen auch darauf mehrere Tage
hin. Aber diesmal war man schon am zweiten nach der Eröffnung mit
Allem fertig. Eine Thronrede fehlte anch diesmal, wie schon seit 1870. Der
König hat, was man ihm im Grunde nicht verdenken kann, keine Lust mehr,
mit der Landesvertretung in ihrer dermaligen Zusammensetzung und Gestalt
persönlich zu conferiren; er weiß, daß eine Thronrede nur eine Adresse hervor¬
rufen und denselben Staub aufwirbeln würde, der vor zwei Jahren unsern
Horizont umdüstert hat. So hat denn, wie herkömmlich, sein Oheim, Prinz
Luitpold, die Eröffnungseeremonie vorgenommen, mit viel mittelalterlichen, ver¬
altetem Pomp und Gepränge und darum um so geringerer Betheiligung des
Volkes, selbst der Mitglieder beider Kammern. Man ist eben in Bayern noch
nicht so weit, wie in Preußen und im Reichstage. Kann dort der Monarch
nicht in Person erscheinen, so verliest der Minister die königliche Botschaft,
während hier Hofstaat, Kürassiere, Hartschiere, Marstall u. a. herangezogen
werden, um ein allerdings glänzendes Schauspiel in Scene zu setzen, das nach
kaum einer Viertelstunde vorüber ist.

Seit dem Schlüsse der letzten Session und namentlich seit der letzten
Reichstagswahl hatten sich innerhalb der klerikalen Partei mancherlei häusliche
Zwistigkeiten abgespielt, und sie trat diesmal nicht so einig wie früher auf den
parlamentarischen Schauplatz. Namentlich der bisher unwidersprochenen, wenn
auch vielleicht im Stillen seit länger schon widerwillig getragenen Führung
Jörg's war man von Seiten gewisser extremer gerichteter Elemente überdrüssig
geworden; wir haben unsers Wissens früher schon mitgetheilt, daß man ihn
und seine dermalige politische Stellung derjenigen Döllinger's auf dem kirchlichen
Gebiete verglich. 'Sigl fuhr in seinem „Vaterland" fort, mit unbarmherzigen
Spotte den Redakteur der „gelben Blätter" nicht minder wie die Partei des
sogenannten „katholischen Casinos" zu verfolgen. In den Provinzen lagen
sich die nltrcunontanen Blätter so gut wie in der Hauptstadt in den Haaren,
und ein hervorragendes Mitglied der „Entschiedener," der Abgeordnete und
Priester, Dr. Ratzinger, schämte sich nicht, einen skandalösen, gegen ihn von einer
oberbayrischen Kellnerin angestrengten Prozeß bis zum obersten Gerichtshof zu
treiben: kurz, es war Alles dazu angethan, daß man hätte glauben können,
die bisher so hoch gehaltene und stramm durchgeführte Unerschütterlichkeit der
ultramontanen Phalanx könnte diesmal wirklich einen kleinen Stoß erhalten,
es könnte sich aus der schwarzen, sest gekitteten Mauer ein Steinchen loslösen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/242>, abgerufen am 28.09.2024.