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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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und erst wer es kennt, wird es lieben, so wenig er seine Schwächen übersieht,
denn des Volkes Schwächen sind auch seine persönlichen.

Zum Schluß noch ein paar Bemerkungen über die Art der Behandlung,
die ich für die entsprechende halte. Man versteht unter "Geschichte" herkömmlich
nnr die politische Geschichte. Gewiß ist diese ein sehr wichtiger Theil,
denn der Staat ist das großartigste Erzeugniß menschlicher Gesittung, aber
doch nnr ein Theil; und die Geschichte soll doch ein möglichst allseitiges
Bild geben, so wenig sie dabei in das Detail etwa der Kunst- oder Literatur¬
geschichte einzugehen haben wird. Es wird deshalb durchaus auch die Ausgabe
dessen, der die Abwandlungen des staatlichen Lebens in den Vordergrund schiebt,
neben denselben die 'hervorragenden Erscheinungen auch der kulturellen Ent¬
wicklung vorzuführen, denn das Volksleben ist ein Ganzes, Untheilbares und
so wenig jemand das Zeitalter Friedrich's des Großen richtig darstellen wird,
wenn er nicht auch Rücksicht nimmt ans die Literatur der Aufklärung und die
Kunst des Noccoeeo, so sehr würde er ein gründlich verzeichnetes Bild des
Reformativnszeitalters liefern, wollte er hier neben der Geschichte der Habs¬
burgischen Monarchie bloß noch etwa die religiöse Umwandlung erzählen, und
nicht auch der mächtigen Bewegungen gedenken, welche die ganze Bildung der
Nationen umgestalteten und ihrem Handel neue Bahnen wiesen.

Es ist sodann im Charakter technischer Hochschulen begründet, daß sie die
neuere Geschichte, die Geschichte der letzten vier Jahrhunderte besonders betonen
müssen, nicht weil frühere Perioden weniger bedeutend wären, wohl aber,
weil für sie, die so durchaus in der Gegenwart stehen, die Grundlagen, auf
welchen diese unmittelbar ruht, wichtiger sind als die tiefer liegenden
Fundamente.

Freilich liegt eben darin die Gefahr verborgen, daß die Objectivität der
Auffassung hier und da verloren geht. Es ist aber um diese "Objectivität"
ein eigen Ding. Versteht man darunter das Streben nach unbefangener und
gerechter Abwägung der Vorzüge und Mängel einer historischen Erscheinung,
dann bin ich völlig bereit, diese Forderung zu erfüllen. Will man aber dem
Historiker zumuthen, mit, ich möchte sagen, naturwissenschaftlicher Nüchternheit
den Dinge" gegenüber zu stehen, dann gestehe ich offen, daß ich das nicht
kann, ja ich glaube, daß man das gar nicht können soll, daß man, hat man
die> erste Forderung uach bestem Gewissen erfüllt, das volle Recht hat, von
seinem Standpunkte aus ein Urtheil zu haben, ja daß die Objectivität in dem
zweiten Sinne nichts ist als Schein, den" Niemand kann seiner Zeit und
seinem Volke entfliehen, und jeder hat deshalb ein ganz bestimmtes Urtheil,
auch wenn er es uicht ausspricht. Noch mehr: wer selber kühl bleibt bis ans
Herz hinan bei der Darstellung entscheidender und einschneidender Vorgänge,


und erst wer es kennt, wird es lieben, so wenig er seine Schwächen übersieht,
denn des Volkes Schwächen sind auch seine persönlichen.

Zum Schluß noch ein paar Bemerkungen über die Art der Behandlung,
die ich für die entsprechende halte. Man versteht unter „Geschichte" herkömmlich
nnr die politische Geschichte. Gewiß ist diese ein sehr wichtiger Theil,
denn der Staat ist das großartigste Erzeugniß menschlicher Gesittung, aber
doch nnr ein Theil; und die Geschichte soll doch ein möglichst allseitiges
Bild geben, so wenig sie dabei in das Detail etwa der Kunst- oder Literatur¬
geschichte einzugehen haben wird. Es wird deshalb durchaus auch die Ausgabe
dessen, der die Abwandlungen des staatlichen Lebens in den Vordergrund schiebt,
neben denselben die 'hervorragenden Erscheinungen auch der kulturellen Ent¬
wicklung vorzuführen, denn das Volksleben ist ein Ganzes, Untheilbares und
so wenig jemand das Zeitalter Friedrich's des Großen richtig darstellen wird,
wenn er nicht auch Rücksicht nimmt ans die Literatur der Aufklärung und die
Kunst des Noccoeeo, so sehr würde er ein gründlich verzeichnetes Bild des
Reformativnszeitalters liefern, wollte er hier neben der Geschichte der Habs¬
burgischen Monarchie bloß noch etwa die religiöse Umwandlung erzählen, und
nicht auch der mächtigen Bewegungen gedenken, welche die ganze Bildung der
Nationen umgestalteten und ihrem Handel neue Bahnen wiesen.

Es ist sodann im Charakter technischer Hochschulen begründet, daß sie die
neuere Geschichte, die Geschichte der letzten vier Jahrhunderte besonders betonen
müssen, nicht weil frühere Perioden weniger bedeutend wären, wohl aber,
weil für sie, die so durchaus in der Gegenwart stehen, die Grundlagen, auf
welchen diese unmittelbar ruht, wichtiger sind als die tiefer liegenden
Fundamente.

Freilich liegt eben darin die Gefahr verborgen, daß die Objectivität der
Auffassung hier und da verloren geht. Es ist aber um diese „Objectivität"
ein eigen Ding. Versteht man darunter das Streben nach unbefangener und
gerechter Abwägung der Vorzüge und Mängel einer historischen Erscheinung,
dann bin ich völlig bereit, diese Forderung zu erfüllen. Will man aber dem
Historiker zumuthen, mit, ich möchte sagen, naturwissenschaftlicher Nüchternheit
den Dinge» gegenüber zu stehen, dann gestehe ich offen, daß ich das nicht
kann, ja ich glaube, daß man das gar nicht können soll, daß man, hat man
die> erste Forderung uach bestem Gewissen erfüllt, das volle Recht hat, von
seinem Standpunkte aus ein Urtheil zu haben, ja daß die Objectivität in dem
zweiten Sinne nichts ist als Schein, den» Niemand kann seiner Zeit und
seinem Volke entfliehen, und jeder hat deshalb ein ganz bestimmtes Urtheil,
auch wenn er es uicht ausspricht. Noch mehr: wer selber kühl bleibt bis ans
Herz hinan bei der Darstellung entscheidender und einschneidender Vorgänge,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/101>, abgerufen am 28.09.2024.