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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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ist nicht oftmals im Einzelfall festzustellen, ob nur "vorübergehende Arbeits¬
unfähigkeit" vorhanden sei, oder aber dauernde? und zu welcher Unsumme von
Chikanen, Belästigungen, absoluten Unbilligkeiten und Härte" hat der § 5 des
Freizügigkeitsgesetzes schon die Hand bieten müssen? Sieht sich doch manche
Arbeiterfamilie, mehr noch auf Landgemeinden, nahe an Fabrikstädten gelegen,
als in den Städten, selbst von dem Augenblick ihres Zuzugs an, von Polizei¬
bediensteten und anderen diensteifrigen Personen umlauert, ob nicht die Noth¬
wendigkeit einer öffentlichen Unterstützung sich offenbare! Schwebt nicht der
Familienvater in Gefahr, wegen eines hartnäckigen Katarrhfiebers, das ihn
vielleicht kurz nach seiner Ankunft in der betreffenden Gemeinde befüllt, noch
ehe er seiue Erwerbsverhältnisse völlig ordnen konnte, für "dauernd arbeits¬
unfähig" erklärt zu werden? Man spricht vom Zuschieben solcher Personen,
die voraussichtlich in Bälde unterstützungsbedürftig werden, aus einer Gemeinde
in die andere, insbesondere aus Dorfgemeinden nach den Städten. Dieser
Unfug kommt vor. Wie steht es aber mit jenen Fällen, wo der Ortsarmen¬
verband Personen, die den Unterstützungswohnsitz noch nicht erworben haben,
bei vorübergehender Noth, die der definitiv Unterstützungspflichtige Armenver¬
band gar nicht beachtet haben würde, Unterstützung geradezu anbietet, ja auf¬
drängt, damit man nachher das Ausweisungsverfahren einleiten könne oder
damit wenigstens die Zeitdauer für Erwerb des Unterstützungswohnsitzes ruhe?
und wie muß man urtheilen über das Verfahren von Ortsvorständen, welche
durch Einflüsterungen, ja durch Drohungen bei den Hausbesitzern ihrer Ge¬
meinden es dahin bringen, daß einer Familie, die möglicherweise der Gemeinde
einmal zur Last fallen könnte, Quartal für Quartal die Wohnung gekündigt
wird, bis sie schließlich in der Gemeinde kein Logis mehr erlangt und dann
genöthigt ist, unter dem Schutz des Freizügigkeitsgesetzes weiter zu wandern?
Wahrhaftig, man braucht kein Prinzipienreiter zu sein, um zu wünschen, die
Verhältnisse möchten so liegen, daß von heute auf morgen dnrch Aufhebung
jeder Frist für Erwerb und Verlust des Unterstützungswohnsitzes solch' heil¬
losen Treiben mit einem Schlag ein Ende bereitet werden könnte. Die Ver¬
hältnisse liegen noch nicht so, und es müssen sich deshalb die entschiedenen
Anhänger der Freizügigkeit mit dem Wunsche begnügen, daß die zweijährige
Frist Abkürzung erfahre, damit das Damoklesschwert der Ausweisung wenig¬
stens nur ein Jahr lang über den Häuptern schwebe. Dieses Verlangen aber
befindet sich so sehr im Einklang mit den treibenden Grundgedanken des
modernen Staats- und Volkslebens, daß ein nur einigermaßen tieferes Ver¬
ständniß dieser Gedanken erforderlich ist, um die volle Nothwendigkeit für das
Einbringen der unter Ziffer 1 erwähnten Gesetzesänderung einzusehen.




ist nicht oftmals im Einzelfall festzustellen, ob nur „vorübergehende Arbeits¬
unfähigkeit" vorhanden sei, oder aber dauernde? und zu welcher Unsumme von
Chikanen, Belästigungen, absoluten Unbilligkeiten und Härte» hat der § 5 des
Freizügigkeitsgesetzes schon die Hand bieten müssen? Sieht sich doch manche
Arbeiterfamilie, mehr noch auf Landgemeinden, nahe an Fabrikstädten gelegen,
als in den Städten, selbst von dem Augenblick ihres Zuzugs an, von Polizei¬
bediensteten und anderen diensteifrigen Personen umlauert, ob nicht die Noth¬
wendigkeit einer öffentlichen Unterstützung sich offenbare! Schwebt nicht der
Familienvater in Gefahr, wegen eines hartnäckigen Katarrhfiebers, das ihn
vielleicht kurz nach seiner Ankunft in der betreffenden Gemeinde befüllt, noch
ehe er seiue Erwerbsverhältnisse völlig ordnen konnte, für „dauernd arbeits¬
unfähig" erklärt zu werden? Man spricht vom Zuschieben solcher Personen,
die voraussichtlich in Bälde unterstützungsbedürftig werden, aus einer Gemeinde
in die andere, insbesondere aus Dorfgemeinden nach den Städten. Dieser
Unfug kommt vor. Wie steht es aber mit jenen Fällen, wo der Ortsarmen¬
verband Personen, die den Unterstützungswohnsitz noch nicht erworben haben,
bei vorübergehender Noth, die der definitiv Unterstützungspflichtige Armenver¬
band gar nicht beachtet haben würde, Unterstützung geradezu anbietet, ja auf¬
drängt, damit man nachher das Ausweisungsverfahren einleiten könne oder
damit wenigstens die Zeitdauer für Erwerb des Unterstützungswohnsitzes ruhe?
und wie muß man urtheilen über das Verfahren von Ortsvorständen, welche
durch Einflüsterungen, ja durch Drohungen bei den Hausbesitzern ihrer Ge¬
meinden es dahin bringen, daß einer Familie, die möglicherweise der Gemeinde
einmal zur Last fallen könnte, Quartal für Quartal die Wohnung gekündigt
wird, bis sie schließlich in der Gemeinde kein Logis mehr erlangt und dann
genöthigt ist, unter dem Schutz des Freizügigkeitsgesetzes weiter zu wandern?
Wahrhaftig, man braucht kein Prinzipienreiter zu sein, um zu wünschen, die
Verhältnisse möchten so liegen, daß von heute auf morgen dnrch Aufhebung
jeder Frist für Erwerb und Verlust des Unterstützungswohnsitzes solch' heil¬
losen Treiben mit einem Schlag ein Ende bereitet werden könnte. Die Ver¬
hältnisse liegen noch nicht so, und es müssen sich deshalb die entschiedenen
Anhänger der Freizügigkeit mit dem Wunsche begnügen, daß die zweijährige
Frist Abkürzung erfahre, damit das Damoklesschwert der Ausweisung wenig¬
stens nur ein Jahr lang über den Häuptern schwebe. Dieses Verlangen aber
befindet sich so sehr im Einklang mit den treibenden Grundgedanken des
modernen Staats- und Volkslebens, daß ein nur einigermaßen tieferes Ver¬
ständniß dieser Gedanken erforderlich ist, um die volle Nothwendigkeit für das
Einbringen der unter Ziffer 1 erwähnten Gesetzesänderung einzusehen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/54>, abgerufen am 25.08.2024.