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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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Statistik der türkischen Staatshaushalte von 1852 bis zum Tode des Sultaus
Abdul Aziz (Mai 187K). Sie läßt uns aber, nachdem Jahr für Jahr das
offizielle Zahlenwerk der Finanzlage der Hohen Pforte mitgetheilt worden ist,
auch scharf und klar erkennen, was an diesen Zahlen gefälscht und erschwindelt
gewesen, wie viele von der für Rechnung des Staates in Einnahme gestellten
Summen niemals dem Staate in die Kassen geflossen sind. Sie erklärt, wie
es möglich ward, daß die Türkei, die bis zum Jahre 1854, trotz ihrer vier-
hnudertjührigen Seßhaftigkeit in Europa, noch nicht einen Pfennig an das
Ausland schuldete, trotz der fast unerschöpflichen Hülfsquellen ihres Bodens
und ihrer Produkte, in wenig mehr als zwanzig Jahren ihren Staatskredit
beim gesammten europäischen Geldmarkt so vollständig verbrauchte und verscherzte,
daß am 7. Oktober 1875 offiziell der Staatsbankerutt ausgesprochen werden
mußte. Die Erklärung dieses rapiden Verfalls kerngesunder Finanzen bietet
nach Ansicht und nach den Ausführungen des Verfassers keineswegs allein
das Raubsystem, das jeder an den Finanzen des Staates betheiligte Beamte
für erlaubt hielt, auch nicht die ganz fabelhafte Verschwendung der kaiserlichen
Hoffalte, selbst nicht die unglückselige, in jedem absoluten Staate kaum ver-
meidliche Verquickung der Civilliste mit dem Staatsschatz. Was dem Fasse
so rasch deu Boden ausschlug, war vielmehr' die grenzenlose Unwissenheit nad
das ebenso außerordentliche Ungeschick der türkischen Staatsmänner in finanziellen
und volkswirtschaftlichen Dingen. Seit vielen Jahren schon war der Zeit¬
punkt mit größter Bestimmtheit voraus zu berechnen, wo die gesammten auch
noch so hoch geschätzten Einnahmen der türkischen Monarchie nicht mehr aus¬
reichen würden, um die Zinsen für die Staatsgläubiger aufzubringen, geschweige
denn irgend eine sonstige laufende Ausgabe des Staates zu bestreiten, und
dennoch wurde jeder neue Zinskoupon nur noch im Wege einer Anleihe auf¬
gebracht, für welche man wieder bis zu 35 Prozent Zinsen angeloben mußte.
Und immer wieder fanden sich europäische Kapitalisten, die bereit waren, dem
unaufhaltsam dem Strudel des Bcmkerutts zutreibenden Staate neue Millionen
anzuvertrauen -- natürlich nicht ihre eigenen, sondern nur die ihrer gerupften
Landsleute, während es ihnen nur auf die fetten Abschlußprovisionen ankam.
Auch Männer wie Layard unterstützten die Pforte -- im politischen Interesse
des stolzen Albion -- in ihren schmählichsten Kreditopercitioneu in der erfolg¬
reichsten Weise. Und von den türkischen Staatsmännern war keiner, namentlich
nicht Fuad Pascha, unterrichtet genug, um das sichere Ende dieser "Jauitscharen-
Pumpwirthschaft" vorauszusehen. Der einzige Midhat Pascha, der dieses
Ende erkannte, kam zu spät und zu kurze Zeit ein's Staatsruder, um das ver¬
lorene Schiff aus dem Strudel zu reißen.

Dieses trübselige Bild wird ergänzt durch eine ebenso klare und eingehende


Statistik der türkischen Staatshaushalte von 1852 bis zum Tode des Sultaus
Abdul Aziz (Mai 187K). Sie läßt uns aber, nachdem Jahr für Jahr das
offizielle Zahlenwerk der Finanzlage der Hohen Pforte mitgetheilt worden ist,
auch scharf und klar erkennen, was an diesen Zahlen gefälscht und erschwindelt
gewesen, wie viele von der für Rechnung des Staates in Einnahme gestellten
Summen niemals dem Staate in die Kassen geflossen sind. Sie erklärt, wie
es möglich ward, daß die Türkei, die bis zum Jahre 1854, trotz ihrer vier-
hnudertjührigen Seßhaftigkeit in Europa, noch nicht einen Pfennig an das
Ausland schuldete, trotz der fast unerschöpflichen Hülfsquellen ihres Bodens
und ihrer Produkte, in wenig mehr als zwanzig Jahren ihren Staatskredit
beim gesammten europäischen Geldmarkt so vollständig verbrauchte und verscherzte,
daß am 7. Oktober 1875 offiziell der Staatsbankerutt ausgesprochen werden
mußte. Die Erklärung dieses rapiden Verfalls kerngesunder Finanzen bietet
nach Ansicht und nach den Ausführungen des Verfassers keineswegs allein
das Raubsystem, das jeder an den Finanzen des Staates betheiligte Beamte
für erlaubt hielt, auch nicht die ganz fabelhafte Verschwendung der kaiserlichen
Hoffalte, selbst nicht die unglückselige, in jedem absoluten Staate kaum ver-
meidliche Verquickung der Civilliste mit dem Staatsschatz. Was dem Fasse
so rasch deu Boden ausschlug, war vielmehr' die grenzenlose Unwissenheit nad
das ebenso außerordentliche Ungeschick der türkischen Staatsmänner in finanziellen
und volkswirtschaftlichen Dingen. Seit vielen Jahren schon war der Zeit¬
punkt mit größter Bestimmtheit voraus zu berechnen, wo die gesammten auch
noch so hoch geschätzten Einnahmen der türkischen Monarchie nicht mehr aus¬
reichen würden, um die Zinsen für die Staatsgläubiger aufzubringen, geschweige
denn irgend eine sonstige laufende Ausgabe des Staates zu bestreiten, und
dennoch wurde jeder neue Zinskoupon nur noch im Wege einer Anleihe auf¬
gebracht, für welche man wieder bis zu 35 Prozent Zinsen angeloben mußte.
Und immer wieder fanden sich europäische Kapitalisten, die bereit waren, dem
unaufhaltsam dem Strudel des Bcmkerutts zutreibenden Staate neue Millionen
anzuvertrauen — natürlich nicht ihre eigenen, sondern nur die ihrer gerupften
Landsleute, während es ihnen nur auf die fetten Abschlußprovisionen ankam.
Auch Männer wie Layard unterstützten die Pforte — im politischen Interesse
des stolzen Albion — in ihren schmählichsten Kreditopercitioneu in der erfolg¬
reichsten Weise. Und von den türkischen Staatsmännern war keiner, namentlich
nicht Fuad Pascha, unterrichtet genug, um das sichere Ende dieser „Jauitscharen-
Pumpwirthschaft" vorauszusehen. Der einzige Midhat Pascha, der dieses
Ende erkannte, kam zu spät und zu kurze Zeit ein's Staatsruder, um das ver¬
lorene Schiff aus dem Strudel zu reißen.

Dieses trübselige Bild wird ergänzt durch eine ebenso klare und eingehende


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[0518] Statistik der türkischen Staatshaushalte von 1852 bis zum Tode des Sultaus Abdul Aziz (Mai 187K). Sie läßt uns aber, nachdem Jahr für Jahr das offizielle Zahlenwerk der Finanzlage der Hohen Pforte mitgetheilt worden ist, auch scharf und klar erkennen, was an diesen Zahlen gefälscht und erschwindelt gewesen, wie viele von der für Rechnung des Staates in Einnahme gestellten Summen niemals dem Staate in die Kassen geflossen sind. Sie erklärt, wie es möglich ward, daß die Türkei, die bis zum Jahre 1854, trotz ihrer vier- hnudertjührigen Seßhaftigkeit in Europa, noch nicht einen Pfennig an das Ausland schuldete, trotz der fast unerschöpflichen Hülfsquellen ihres Bodens und ihrer Produkte, in wenig mehr als zwanzig Jahren ihren Staatskredit beim gesammten europäischen Geldmarkt so vollständig verbrauchte und verscherzte, daß am 7. Oktober 1875 offiziell der Staatsbankerutt ausgesprochen werden mußte. Die Erklärung dieses rapiden Verfalls kerngesunder Finanzen bietet nach Ansicht und nach den Ausführungen des Verfassers keineswegs allein das Raubsystem, das jeder an den Finanzen des Staates betheiligte Beamte für erlaubt hielt, auch nicht die ganz fabelhafte Verschwendung der kaiserlichen Hoffalte, selbst nicht die unglückselige, in jedem absoluten Staate kaum ver- meidliche Verquickung der Civilliste mit dem Staatsschatz. Was dem Fasse so rasch deu Boden ausschlug, war vielmehr' die grenzenlose Unwissenheit nad das ebenso außerordentliche Ungeschick der türkischen Staatsmänner in finanziellen und volkswirtschaftlichen Dingen. Seit vielen Jahren schon war der Zeit¬ punkt mit größter Bestimmtheit voraus zu berechnen, wo die gesammten auch noch so hoch geschätzten Einnahmen der türkischen Monarchie nicht mehr aus¬ reichen würden, um die Zinsen für die Staatsgläubiger aufzubringen, geschweige denn irgend eine sonstige laufende Ausgabe des Staates zu bestreiten, und dennoch wurde jeder neue Zinskoupon nur noch im Wege einer Anleihe auf¬ gebracht, für welche man wieder bis zu 35 Prozent Zinsen angeloben mußte. Und immer wieder fanden sich europäische Kapitalisten, die bereit waren, dem unaufhaltsam dem Strudel des Bcmkerutts zutreibenden Staate neue Millionen anzuvertrauen — natürlich nicht ihre eigenen, sondern nur die ihrer gerupften Landsleute, während es ihnen nur auf die fetten Abschlußprovisionen ankam. Auch Männer wie Layard unterstützten die Pforte — im politischen Interesse des stolzen Albion — in ihren schmählichsten Kreditopercitioneu in der erfolg¬ reichsten Weise. Und von den türkischen Staatsmännern war keiner, namentlich nicht Fuad Pascha, unterrichtet genug, um das sichere Ende dieser „Jauitscharen- Pumpwirthschaft" vorauszusehen. Der einzige Midhat Pascha, der dieses Ende erkannte, kam zu spät und zu kurze Zeit ein's Staatsruder, um das ver¬ lorene Schiff aus dem Strudel zu reißen. Dieses trübselige Bild wird ergänzt durch eine ebenso klare und eingehende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/518>, abgerufen am 25.08.2024.