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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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unter den früheren Zuständen ganz abnorm begünstigt waren und das sich
jetzt lediglich ein Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit vollzogen hat. Trotzdem
wollen wir nicht bestreiten, daß auch die Städte Ursache zur Klage haben und
daß einige Berechtigung vorhanden ist, von der Gesetzgebung Hilfe zu bean¬
spruchen. Wir find aber der Ansicht, daß diese Hilfe kaum weiter wird gewährt
werden können, als in dem Sinne des von uns unter Ziffer 5 und etwa noch
Ziffer 4 verzeichneten Einzelvorschlags. Die Haupthilfe hätten die Städte
unseres Erachtens dnrch Errichtung obligatorischer Hilfskassen, wovon weiter
unten die Rede sein wird, sich selbst zu leisten. Schließlich möchte wohl zu
beachten sein, daß die Städte vielfach in den letzten Jahren einen Massenznflnß
der Bevölkerung derart für glückbringend angesehen haben, daß sie denselben
nachdrücklichst erleichterten, ja zum Theil künstlich beförderten. Hiermit wurden
manche Geister gerufen, die 'man jetzt gerne los sein möchte. Je mehr allmählich
die Folgen des ungesunden Aufschwungs sich verlieren, den Handel und Wandel
nach dem französischen Kriege genommen haben, je mehr sich alles wieder
in's Gleichgewicht setzt, desto mehr wird aus Mangel an lohnender Arbeit in
den Städten die ungesunde Uebervölkerung derselben abnehmen, und dies wird
selbstverständlich auch eine Erleichterung der städtischen Armenbudgets bewirken.

Weit begründeter als die Klagen der Städte erscheinen uns die der ländlichen
Ortsarmenverbände. Diese und mit ihnen die Armenverbände der kleinen
Landstüdtchen, beschweren sich, daß in Folge der nach den Städten zudrängenden
Fluktuation der Arbeiterbevölkerung, so lange die zweijährige Frist für Erwerb
und Verlust des Unterstützungswohnsitzes bestehe, insbesondere noch in Verbindung
wie der gegenwärtigen Festsetzung des zum Erwerb und Verlust erforderlichen
Lebensalters "mit der Unterstützung Verzogener und ihrer Angehörigen Armen¬
verbände belastet werden, denen die wirthschaftlichen Leistungen des Hilfsbedürftigen
weder zu Gute gekommen sind, noch zu Gute kommen werden." ("Motive"
zum Gesetzentwurf.) Es ist richtig, daß vor Allem die Agrarier diesen Punkt
als das osterum censeo auf das Programm ihrer Beschwerden und Forderungen
gesetzt haben. Aber von vornherein schon deßhalb sich gegen denselben ablehnend
verhalten zu wollen, wäre ebenso ein Zeichen blinden Parteihasses, als es grobe
Unkenntniß voraussetzen würde, wenn man behaupten wollte, die Beschwerde
werde nur in den Kreisen der Agrarier vernommen. Man kann die Beschwerde
bei uns in Baden fast auf jedem Dorfe hören, auch auf solchen, deren
Bewohnern der Name "Agrarier" noch nie zu Ohren gekommen ist, und wenn
dieselbe, allerdings mit anderen als in der Sache selbst liegenden Gründen
einen feststehenden Punkt auf der Traktandenliste der Agrarier bildet, so beweist
das nur, daß auch in sonst recht schief gewickelten Parteiprogrammen vollständig
Berechtigtes sich finden kann. "Es ist eine sehr starke Zumuthung, wenn behauptet


unter den früheren Zuständen ganz abnorm begünstigt waren und das sich
jetzt lediglich ein Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit vollzogen hat. Trotzdem
wollen wir nicht bestreiten, daß auch die Städte Ursache zur Klage haben und
daß einige Berechtigung vorhanden ist, von der Gesetzgebung Hilfe zu bean¬
spruchen. Wir find aber der Ansicht, daß diese Hilfe kaum weiter wird gewährt
werden können, als in dem Sinne des von uns unter Ziffer 5 und etwa noch
Ziffer 4 verzeichneten Einzelvorschlags. Die Haupthilfe hätten die Städte
unseres Erachtens dnrch Errichtung obligatorischer Hilfskassen, wovon weiter
unten die Rede sein wird, sich selbst zu leisten. Schließlich möchte wohl zu
beachten sein, daß die Städte vielfach in den letzten Jahren einen Massenznflnß
der Bevölkerung derart für glückbringend angesehen haben, daß sie denselben
nachdrücklichst erleichterten, ja zum Theil künstlich beförderten. Hiermit wurden
manche Geister gerufen, die 'man jetzt gerne los sein möchte. Je mehr allmählich
die Folgen des ungesunden Aufschwungs sich verlieren, den Handel und Wandel
nach dem französischen Kriege genommen haben, je mehr sich alles wieder
in's Gleichgewicht setzt, desto mehr wird aus Mangel an lohnender Arbeit in
den Städten die ungesunde Uebervölkerung derselben abnehmen, und dies wird
selbstverständlich auch eine Erleichterung der städtischen Armenbudgets bewirken.

Weit begründeter als die Klagen der Städte erscheinen uns die der ländlichen
Ortsarmenverbände. Diese und mit ihnen die Armenverbände der kleinen
Landstüdtchen, beschweren sich, daß in Folge der nach den Städten zudrängenden
Fluktuation der Arbeiterbevölkerung, so lange die zweijährige Frist für Erwerb
und Verlust des Unterstützungswohnsitzes bestehe, insbesondere noch in Verbindung
wie der gegenwärtigen Festsetzung des zum Erwerb und Verlust erforderlichen
Lebensalters „mit der Unterstützung Verzogener und ihrer Angehörigen Armen¬
verbände belastet werden, denen die wirthschaftlichen Leistungen des Hilfsbedürftigen
weder zu Gute gekommen sind, noch zu Gute kommen werden." („Motive"
zum Gesetzentwurf.) Es ist richtig, daß vor Allem die Agrarier diesen Punkt
als das osterum censeo auf das Programm ihrer Beschwerden und Forderungen
gesetzt haben. Aber von vornherein schon deßhalb sich gegen denselben ablehnend
verhalten zu wollen, wäre ebenso ein Zeichen blinden Parteihasses, als es grobe
Unkenntniß voraussetzen würde, wenn man behaupten wollte, die Beschwerde
werde nur in den Kreisen der Agrarier vernommen. Man kann die Beschwerde
bei uns in Baden fast auf jedem Dorfe hören, auch auf solchen, deren
Bewohnern der Name „Agrarier" noch nie zu Ohren gekommen ist, und wenn
dieselbe, allerdings mit anderen als in der Sache selbst liegenden Gründen
einen feststehenden Punkt auf der Traktandenliste der Agrarier bildet, so beweist
das nur, daß auch in sonst recht schief gewickelten Parteiprogrammen vollständig
Berechtigtes sich finden kann. „Es ist eine sehr starke Zumuthung, wenn behauptet


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/51>, abgerufen am 25.08.2024.