Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sichtsmaßregeln, die Vertheilung der Arbeits- und Ruhestunden, die Ausführung
der Belagerungsarbeiten und dergleichen mehr anbetrifft, daß ihre Existenz da¬
runter leidet. Aber ich wiederhole nochmals, angesichts des Feindes treten diese
Mängel zurück und ihre Bravour gleicht sie wieder aus."

Sind alle diese Mängel im Verlauf von drei und zwanzig Jahren gehoben,
ist die englische Armee jetzt kriegsbereit? Wir glauben es nicht. Die Regierung
hat im Krimkriege, wo die englische Armee trotz aller Tapferkeit keine Lorberen
einärndete, wie man zu sagen pflegt, ein Haar gefunden. Von dort her, und
aus einer jedenfalls achtungswerthen Selbsterkenntniß, stammt die jetzige Fried¬
fertigkeit. Die Erfahrungen, welche die englische Regierung bei einem vor nicht
langer Zeit unternommenen Mobilmachnngsversuch, so wie bei den Lagerübungen
zu Aldershot gemacht hat, können unmöglich das Vertrauen zur Kriegstüchtigkeit
ihrer Armee gehoben haben. Dem entsprechen auch die Urtheile des Generals
Collnison und des Admirals Selvin, die vor einigen Monaten in der "Ro^al
vnitsä Lsrvios Institution" Vorträge hielten und unumwunden aussprachen,
daß weder die englische Landmacht, wegen ihrer numerischen Schwäche und un¬
genügenden Vorbereitung, noch die über alle Meere zerstreute Seemacht im
Staude sein würden, einer feindlichen Invasion des Jnselreichs Widerstand zu
leisten. Damit ist natürlich der selbständigen Führung eines auswärtigen Krie¬
ges das Urtheil gesprochen. Das "Erkenne dich selbst" hat gewiß einen hohen
Werth, wenn es der Anfang zur Besserung ist. Es hat jedoch den Anschein,
als wenn eine totale Umwandlung des englischen Heerwesens, und nur eine
solche könnte gründliche Abhülfe schaffen, ganz aufgegeben wäre. Offenbar glaubt
man in englischen bestimmenden Kreisen vorläufig noch durch vollkommene
Passivität die sicherste Gewähr für die Zukunft erzielen zu können. Old England
möge jedoch des aus dem Deutschen stammende Sprüchworts eingedenk sein
"OktkQSklöss, -- äiLQ0QorÄvlk!"

Um einen Begriff davon zu geben, was die Verbündeten vor Sebastapol
von den Unbilden des Wetters szu erdulden hatten und wie darunter der Ge¬
sundheitszustand leiden mußte, wollen wir hier die Schilderung eines orkanar¬
tiger Sturmes folgen lassen, der am 14. November über den Pontus Euxinus
und über den Chersones dahin brauste. Grade in dergleichen Schilderungen
ist der Verfasser Meister. "Bis zum 4. November war das Wetter günstig
gewesen; an diesem Tage öffneten sich jedoch die Schleußen des Himmels und der
Regen goß in Strömen herab. Von da ab blieb das Wetter veränderlich und
am 13. wurde es wieder entschieden schlecht. Der Wind, der in einzelnen
Stößen heftig aus Südwesten blies, nahm während der Nacht an Gewalt zu.
Am 14. um 7 Uhr Morgens war kein Zweifel mehr: über die Hochebenen des
Chersones fegte ein gewaltiger Cyklon. Seit Menschengedenken hatte die Krim,


sichtsmaßregeln, die Vertheilung der Arbeits- und Ruhestunden, die Ausführung
der Belagerungsarbeiten und dergleichen mehr anbetrifft, daß ihre Existenz da¬
runter leidet. Aber ich wiederhole nochmals, angesichts des Feindes treten diese
Mängel zurück und ihre Bravour gleicht sie wieder aus."

Sind alle diese Mängel im Verlauf von drei und zwanzig Jahren gehoben,
ist die englische Armee jetzt kriegsbereit? Wir glauben es nicht. Die Regierung
hat im Krimkriege, wo die englische Armee trotz aller Tapferkeit keine Lorberen
einärndete, wie man zu sagen pflegt, ein Haar gefunden. Von dort her, und
aus einer jedenfalls achtungswerthen Selbsterkenntniß, stammt die jetzige Fried¬
fertigkeit. Die Erfahrungen, welche die englische Regierung bei einem vor nicht
langer Zeit unternommenen Mobilmachnngsversuch, so wie bei den Lagerübungen
zu Aldershot gemacht hat, können unmöglich das Vertrauen zur Kriegstüchtigkeit
ihrer Armee gehoben haben. Dem entsprechen auch die Urtheile des Generals
Collnison und des Admirals Selvin, die vor einigen Monaten in der „Ro^al
vnitsä Lsrvios Institution" Vorträge hielten und unumwunden aussprachen,
daß weder die englische Landmacht, wegen ihrer numerischen Schwäche und un¬
genügenden Vorbereitung, noch die über alle Meere zerstreute Seemacht im
Staude sein würden, einer feindlichen Invasion des Jnselreichs Widerstand zu
leisten. Damit ist natürlich der selbständigen Führung eines auswärtigen Krie¬
ges das Urtheil gesprochen. Das „Erkenne dich selbst" hat gewiß einen hohen
Werth, wenn es der Anfang zur Besserung ist. Es hat jedoch den Anschein,
als wenn eine totale Umwandlung des englischen Heerwesens, und nur eine
solche könnte gründliche Abhülfe schaffen, ganz aufgegeben wäre. Offenbar glaubt
man in englischen bestimmenden Kreisen vorläufig noch durch vollkommene
Passivität die sicherste Gewähr für die Zukunft erzielen zu können. Old England
möge jedoch des aus dem Deutschen stammende Sprüchworts eingedenk sein
„OktkQSklöss, — äiLQ0QorÄvlk!"

Um einen Begriff davon zu geben, was die Verbündeten vor Sebastapol
von den Unbilden des Wetters szu erdulden hatten und wie darunter der Ge¬
sundheitszustand leiden mußte, wollen wir hier die Schilderung eines orkanar¬
tiger Sturmes folgen lassen, der am 14. November über den Pontus Euxinus
und über den Chersones dahin brauste. Grade in dergleichen Schilderungen
ist der Verfasser Meister. „Bis zum 4. November war das Wetter günstig
gewesen; an diesem Tage öffneten sich jedoch die Schleußen des Himmels und der
Regen goß in Strömen herab. Von da ab blieb das Wetter veränderlich und
am 13. wurde es wieder entschieden schlecht. Der Wind, der in einzelnen
Stößen heftig aus Südwesten blies, nahm während der Nacht an Gewalt zu.
Am 14. um 7 Uhr Morgens war kein Zweifel mehr: über die Hochebenen des
Chersones fegte ein gewaltiger Cyklon. Seit Menschengedenken hatte die Krim,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0490" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/139249"/>
          <p xml:id="ID_1401" prev="#ID_1400"> sichtsmaßregeln, die Vertheilung der Arbeits- und Ruhestunden, die Ausführung<lb/>
der Belagerungsarbeiten und dergleichen mehr anbetrifft, daß ihre Existenz da¬<lb/>
runter leidet. Aber ich wiederhole nochmals, angesichts des Feindes treten diese<lb/>
Mängel zurück und ihre Bravour gleicht sie wieder aus."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1402"> Sind alle diese Mängel im Verlauf von drei und zwanzig Jahren gehoben,<lb/>
ist die englische Armee jetzt kriegsbereit? Wir glauben es nicht. Die Regierung<lb/>
hat im Krimkriege, wo die englische Armee trotz aller Tapferkeit keine Lorberen<lb/>
einärndete, wie man zu sagen pflegt, ein Haar gefunden. Von dort her, und<lb/>
aus einer jedenfalls achtungswerthen Selbsterkenntniß, stammt die jetzige Fried¬<lb/>
fertigkeit. Die Erfahrungen, welche die englische Regierung bei einem vor nicht<lb/>
langer Zeit unternommenen Mobilmachnngsversuch, so wie bei den Lagerübungen<lb/>
zu Aldershot gemacht hat, können unmöglich das Vertrauen zur Kriegstüchtigkeit<lb/>
ihrer Armee gehoben haben. Dem entsprechen auch die Urtheile des Generals<lb/>
Collnison und des Admirals Selvin, die vor einigen Monaten in der &#x201E;Ro^al<lb/>
vnitsä Lsrvios Institution" Vorträge hielten und unumwunden aussprachen,<lb/>
daß weder die englische Landmacht, wegen ihrer numerischen Schwäche und un¬<lb/>
genügenden Vorbereitung, noch die über alle Meere zerstreute Seemacht im<lb/>
Staude sein würden, einer feindlichen Invasion des Jnselreichs Widerstand zu<lb/>
leisten. Damit ist natürlich der selbständigen Führung eines auswärtigen Krie¬<lb/>
ges das Urtheil gesprochen. Das &#x201E;Erkenne dich selbst" hat gewiß einen hohen<lb/>
Werth, wenn es der Anfang zur Besserung ist. Es hat jedoch den Anschein,<lb/>
als wenn eine totale Umwandlung des englischen Heerwesens, und nur eine<lb/>
solche könnte gründliche Abhülfe schaffen, ganz aufgegeben wäre. Offenbar glaubt<lb/>
man in englischen bestimmenden Kreisen vorläufig noch durch vollkommene<lb/>
Passivität die sicherste Gewähr für die Zukunft erzielen zu können. Old England<lb/>
möge jedoch des aus dem Deutschen stammende Sprüchworts eingedenk sein<lb/>
&#x201E;OktkQSklöss, &#x2014; äiLQ0QorÄvlk!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1403" next="#ID_1404"> Um einen Begriff davon zu geben, was die Verbündeten vor Sebastapol<lb/>
von den Unbilden des Wetters szu erdulden hatten und wie darunter der Ge¬<lb/>
sundheitszustand leiden mußte, wollen wir hier die Schilderung eines orkanar¬<lb/>
tiger Sturmes folgen lassen, der am 14. November über den Pontus Euxinus<lb/>
und über den Chersones dahin brauste. Grade in dergleichen Schilderungen<lb/>
ist der Verfasser Meister. &#x201E;Bis zum 4. November war das Wetter günstig<lb/>
gewesen; an diesem Tage öffneten sich jedoch die Schleußen des Himmels und der<lb/>
Regen goß in Strömen herab. Von da ab blieb das Wetter veränderlich und<lb/>
am 13. wurde es wieder entschieden schlecht. Der Wind, der in einzelnen<lb/>
Stößen heftig aus Südwesten blies, nahm während der Nacht an Gewalt zu.<lb/>
Am 14. um 7 Uhr Morgens war kein Zweifel mehr: über die Hochebenen des<lb/>
Chersones fegte ein gewaltiger Cyklon. Seit Menschengedenken hatte die Krim,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0490] sichtsmaßregeln, die Vertheilung der Arbeits- und Ruhestunden, die Ausführung der Belagerungsarbeiten und dergleichen mehr anbetrifft, daß ihre Existenz da¬ runter leidet. Aber ich wiederhole nochmals, angesichts des Feindes treten diese Mängel zurück und ihre Bravour gleicht sie wieder aus." Sind alle diese Mängel im Verlauf von drei und zwanzig Jahren gehoben, ist die englische Armee jetzt kriegsbereit? Wir glauben es nicht. Die Regierung hat im Krimkriege, wo die englische Armee trotz aller Tapferkeit keine Lorberen einärndete, wie man zu sagen pflegt, ein Haar gefunden. Von dort her, und aus einer jedenfalls achtungswerthen Selbsterkenntniß, stammt die jetzige Fried¬ fertigkeit. Die Erfahrungen, welche die englische Regierung bei einem vor nicht langer Zeit unternommenen Mobilmachnngsversuch, so wie bei den Lagerübungen zu Aldershot gemacht hat, können unmöglich das Vertrauen zur Kriegstüchtigkeit ihrer Armee gehoben haben. Dem entsprechen auch die Urtheile des Generals Collnison und des Admirals Selvin, die vor einigen Monaten in der „Ro^al vnitsä Lsrvios Institution" Vorträge hielten und unumwunden aussprachen, daß weder die englische Landmacht, wegen ihrer numerischen Schwäche und un¬ genügenden Vorbereitung, noch die über alle Meere zerstreute Seemacht im Staude sein würden, einer feindlichen Invasion des Jnselreichs Widerstand zu leisten. Damit ist natürlich der selbständigen Führung eines auswärtigen Krie¬ ges das Urtheil gesprochen. Das „Erkenne dich selbst" hat gewiß einen hohen Werth, wenn es der Anfang zur Besserung ist. Es hat jedoch den Anschein, als wenn eine totale Umwandlung des englischen Heerwesens, und nur eine solche könnte gründliche Abhülfe schaffen, ganz aufgegeben wäre. Offenbar glaubt man in englischen bestimmenden Kreisen vorläufig noch durch vollkommene Passivität die sicherste Gewähr für die Zukunft erzielen zu können. Old England möge jedoch des aus dem Deutschen stammende Sprüchworts eingedenk sein „OktkQSklöss, — äiLQ0QorÄvlk!" Um einen Begriff davon zu geben, was die Verbündeten vor Sebastapol von den Unbilden des Wetters szu erdulden hatten und wie darunter der Ge¬ sundheitszustand leiden mußte, wollen wir hier die Schilderung eines orkanar¬ tiger Sturmes folgen lassen, der am 14. November über den Pontus Euxinus und über den Chersones dahin brauste. Grade in dergleichen Schilderungen ist der Verfasser Meister. „Bis zum 4. November war das Wetter günstig gewesen; an diesem Tage öffneten sich jedoch die Schleußen des Himmels und der Regen goß in Strömen herab. Von da ab blieb das Wetter veränderlich und am 13. wurde es wieder entschieden schlecht. Der Wind, der in einzelnen Stößen heftig aus Südwesten blies, nahm während der Nacht an Gewalt zu. Am 14. um 7 Uhr Morgens war kein Zweifel mehr: über die Hochebenen des Chersones fegte ein gewaltiger Cyklon. Seit Menschengedenken hatte die Krim,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/490
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/490>, abgerufen am 23.07.2024.