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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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fällig machen. So lange aber dieser Grundsatz in Geltung bleibt, ist auch die
alte "Heimathgemeinde" verloren. Die Aufenthaltsgemeiude, der "Unter¬
stützungswohnsitz" muß nicht absolut "kalt und unfreundlich" sein und ist es
in der That dem in den neuzeitlichen Verhältnissen Aufgewachsenen nicht.

Ferner wird das ganze System unserer Armengesetzgebung von denen an¬
getastet, welche dem Recht des Einzelnen auf "souveräne (!) Freizügigkeit" das
Recht -- warum nicht gleich die Pflicht? -- der Gesammtheit in ihrer Organi¬
sation als Gemeinde, Kreis, Staat auf "souveräne Gleichgültigkeit" gegen die
Noth des Hilfsbedürftigen entgegensetzen wollen. Es sei ein absoluter Wider¬
spruch -- so wird von dieser Seite aus geltend gemacht -- daß man bei "un¬
bedingter (!) Freizügigkeit" noch von einer Unterstützungspflicht des Aufent¬
haltsortes rede und diese Pflicht gesetzlich feststelle, es sei dies ein Zugeständniß
an die Forderung des "Communismus", die Gesetzgebung habe gewissermaßen
"eine staatliche Versicherungsanstalt gegen die finanziellen Folgen des Leicht¬
sinns" geschaffen. Allzu scharf macht schartig, und so wird auch jeder Kundige
sich gegenüber solch' ungeheuerlichen Deklamationen des dicksten Unverstandes
eines mitleidigen Lächelns nicht erwehren können. Die Schaffung amerikanischer
Verhältnisse bezüglich der Armenpflege, d. i. die absolute Indifferenz der Ge¬
setzgebung gegenüber dem Hilfsbedürftigen, die Ueberlassung desselben an die
Privatwohlthätigkeit der Vereine, der Kirchen, der Einzelnen, eventuell an das
Elend würde unter unseren deutsch-europäischen Verhältnissen die schwersten
Gefahren heraufbeschwören. Es mag insbesondere gewissen kirchlichen Kreisen
und Richtungen, freilich aus ganz anderen Gründen, als denen der Humanität,
willkommen sein, wenn der hartherzige Staat den Nothleidenden hinwegweist,
daß die Kirche ihm die helfende Hand reiche. Es mag auch sein, daß ab und
zu Einzelne sich in frivoler Weise darauf verlassen, man müsse sie einst doch
unterstützen. Aber abgesehen von den Gründen der Humanität, so sind die
großen Gefahren, welche dem Staatsverband als solchem drohen, welche sich
in Bezug auf Sittlichkeit im weitesten Sinn des Wortes ergeben würden,
wenn man die Unterstützungspflicht für Privatsache erklärte, -- sie sind der¬
maßen schwerwiegend, daß der moderne Rechts- und Kulturstaat sich niemals
dazu wird verstehen können, jenen Schritt zu thun. Die aus der Ausdehnung
der persönlichen Freiheit des Einzelnen entspringende Konsequenz der erhöhten
persönlichen Verantwortlichkeit, das energische Aufbieten der Selbsthilfe muß
auf anderem Wege zur realen Geltung gebracht und in solcher Geltung er¬
halten werden.

Was nun die Klasse derer betrifft, welche unter Festhaltung der prinzi¬
piellen Grundlage und mit Anerkennung des Systems der gegenwärtigen
Armengesetzgebung einzelne in der Praxis hervorgetretene Lücken und Arm-


fällig machen. So lange aber dieser Grundsatz in Geltung bleibt, ist auch die
alte „Heimathgemeinde" verloren. Die Aufenthaltsgemeiude, der „Unter¬
stützungswohnsitz" muß nicht absolut „kalt und unfreundlich" sein und ist es
in der That dem in den neuzeitlichen Verhältnissen Aufgewachsenen nicht.

Ferner wird das ganze System unserer Armengesetzgebung von denen an¬
getastet, welche dem Recht des Einzelnen auf „souveräne (!) Freizügigkeit" das
Recht — warum nicht gleich die Pflicht? — der Gesammtheit in ihrer Organi¬
sation als Gemeinde, Kreis, Staat auf „souveräne Gleichgültigkeit" gegen die
Noth des Hilfsbedürftigen entgegensetzen wollen. Es sei ein absoluter Wider¬
spruch — so wird von dieser Seite aus geltend gemacht — daß man bei „un¬
bedingter (!) Freizügigkeit" noch von einer Unterstützungspflicht des Aufent¬
haltsortes rede und diese Pflicht gesetzlich feststelle, es sei dies ein Zugeständniß
an die Forderung des „Communismus", die Gesetzgebung habe gewissermaßen
„eine staatliche Versicherungsanstalt gegen die finanziellen Folgen des Leicht¬
sinns" geschaffen. Allzu scharf macht schartig, und so wird auch jeder Kundige
sich gegenüber solch' ungeheuerlichen Deklamationen des dicksten Unverstandes
eines mitleidigen Lächelns nicht erwehren können. Die Schaffung amerikanischer
Verhältnisse bezüglich der Armenpflege, d. i. die absolute Indifferenz der Ge¬
setzgebung gegenüber dem Hilfsbedürftigen, die Ueberlassung desselben an die
Privatwohlthätigkeit der Vereine, der Kirchen, der Einzelnen, eventuell an das
Elend würde unter unseren deutsch-europäischen Verhältnissen die schwersten
Gefahren heraufbeschwören. Es mag insbesondere gewissen kirchlichen Kreisen
und Richtungen, freilich aus ganz anderen Gründen, als denen der Humanität,
willkommen sein, wenn der hartherzige Staat den Nothleidenden hinwegweist,
daß die Kirche ihm die helfende Hand reiche. Es mag auch sein, daß ab und
zu Einzelne sich in frivoler Weise darauf verlassen, man müsse sie einst doch
unterstützen. Aber abgesehen von den Gründen der Humanität, so sind die
großen Gefahren, welche dem Staatsverband als solchem drohen, welche sich
in Bezug auf Sittlichkeit im weitesten Sinn des Wortes ergeben würden,
wenn man die Unterstützungspflicht für Privatsache erklärte, — sie sind der¬
maßen schwerwiegend, daß der moderne Rechts- und Kulturstaat sich niemals
dazu wird verstehen können, jenen Schritt zu thun. Die aus der Ausdehnung
der persönlichen Freiheit des Einzelnen entspringende Konsequenz der erhöhten
persönlichen Verantwortlichkeit, das energische Aufbieten der Selbsthilfe muß
auf anderem Wege zur realen Geltung gebracht und in solcher Geltung er¬
halten werden.

Was nun die Klasse derer betrifft, welche unter Festhaltung der prinzi¬
piellen Grundlage und mit Anerkennung des Systems der gegenwärtigen
Armengesetzgebung einzelne in der Praxis hervorgetretene Lücken und Arm-


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[0048] fällig machen. So lange aber dieser Grundsatz in Geltung bleibt, ist auch die alte „Heimathgemeinde" verloren. Die Aufenthaltsgemeiude, der „Unter¬ stützungswohnsitz" muß nicht absolut „kalt und unfreundlich" sein und ist es in der That dem in den neuzeitlichen Verhältnissen Aufgewachsenen nicht. Ferner wird das ganze System unserer Armengesetzgebung von denen an¬ getastet, welche dem Recht des Einzelnen auf „souveräne (!) Freizügigkeit" das Recht — warum nicht gleich die Pflicht? — der Gesammtheit in ihrer Organi¬ sation als Gemeinde, Kreis, Staat auf „souveräne Gleichgültigkeit" gegen die Noth des Hilfsbedürftigen entgegensetzen wollen. Es sei ein absoluter Wider¬ spruch — so wird von dieser Seite aus geltend gemacht — daß man bei „un¬ bedingter (!) Freizügigkeit" noch von einer Unterstützungspflicht des Aufent¬ haltsortes rede und diese Pflicht gesetzlich feststelle, es sei dies ein Zugeständniß an die Forderung des „Communismus", die Gesetzgebung habe gewissermaßen „eine staatliche Versicherungsanstalt gegen die finanziellen Folgen des Leicht¬ sinns" geschaffen. Allzu scharf macht schartig, und so wird auch jeder Kundige sich gegenüber solch' ungeheuerlichen Deklamationen des dicksten Unverstandes eines mitleidigen Lächelns nicht erwehren können. Die Schaffung amerikanischer Verhältnisse bezüglich der Armenpflege, d. i. die absolute Indifferenz der Ge¬ setzgebung gegenüber dem Hilfsbedürftigen, die Ueberlassung desselben an die Privatwohlthätigkeit der Vereine, der Kirchen, der Einzelnen, eventuell an das Elend würde unter unseren deutsch-europäischen Verhältnissen die schwersten Gefahren heraufbeschwören. Es mag insbesondere gewissen kirchlichen Kreisen und Richtungen, freilich aus ganz anderen Gründen, als denen der Humanität, willkommen sein, wenn der hartherzige Staat den Nothleidenden hinwegweist, daß die Kirche ihm die helfende Hand reiche. Es mag auch sein, daß ab und zu Einzelne sich in frivoler Weise darauf verlassen, man müsse sie einst doch unterstützen. Aber abgesehen von den Gründen der Humanität, so sind die großen Gefahren, welche dem Staatsverband als solchem drohen, welche sich in Bezug auf Sittlichkeit im weitesten Sinn des Wortes ergeben würden, wenn man die Unterstützungspflicht für Privatsache erklärte, — sie sind der¬ maßen schwerwiegend, daß der moderne Rechts- und Kulturstaat sich niemals dazu wird verstehen können, jenen Schritt zu thun. Die aus der Ausdehnung der persönlichen Freiheit des Einzelnen entspringende Konsequenz der erhöhten persönlichen Verantwortlichkeit, das energische Aufbieten der Selbsthilfe muß auf anderem Wege zur realen Geltung gebracht und in solcher Geltung er¬ halten werden. Was nun die Klasse derer betrifft, welche unter Festhaltung der prinzi¬ piellen Grundlage und mit Anerkennung des Systems der gegenwärtigen Armengesetzgebung einzelne in der Praxis hervorgetretene Lücken und Arm-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/48>, abgerufen am 22.07.2024.