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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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etwa in den ersten Monaten nach dem Kriege geschrieben. Denn es ist in der
Hauptsache eine Tendenzschrift. Es soll zeigen, daß die ganze Staatswirth¬
schaft in Stambul, namentlich das sogen. Effendithnm, das wir etwa mit
Staatsbanditenthnm verdeutschen müssen, sich gründlich abgewirthschaftet habe,
daß die ganze zünftige Diplomatie, welche sich mit Lösung der orientalischen
Frage abmüht, von orientalischen Dingen im Allgemeinen und der lieben Noth¬
durft der Türkei insbesondere nichts versteht, und daß der einzige türkische
Staatsmann, der im Innern durch seine Amtsthätigkeit in Bulgarien und
Bagdad und später als Minister, wie in der äußeren Politik durch die von
ihm ausgehende Entthronung des unnützen russenfreundlichen Sultans Abdul
Aziz, durch die Errichtung des türkischen Parlaments und die Energie seines
national-türkischen Standpunktes Leibliches geschaffen, daß dieser einzige Minister,
Midhat Pascha, im Auslande als Verbannter weile. Dem Verfasser, der diese Gegen¬
sätze anschaulich macheu wollte, mußten die ersten, den Türken so ungünstigen Monate
nach Beginn des Krieges für seine Zwecke besonders geeignet erscheinen. Auch
daß das Buch in Deutschland und in deutscher Sprache erschienen ist, ent¬
spricht dieser Annahme. Im Deutschen Reiche und in Deutschösterreich hatte
die Türkei, oder richtiger die Partei Midhat Pascha's, bei Volk und Regie¬
rung noch am meisten aufzuklären, mußte sie die erheblichsten Anstrengungen
machen, wenn sie Sympathien erwerben wollte.

Die scharfe und fast grimmige Verurtheilung der Mißverwaltung der
türkischen Provinzen, welche uns der Verfasser in seiner ersten Abhandlung
bietet, zielt natürlich ans denselben Zweck ab. Sie soll zeigen, wo die Hand
der Reform zuerst angelegt werden muß. Die Uebersicht über die Behörden¬
organisation in den türkischen Provinzen, welche die ersten Seiten uns bieten,
ist außerordentlich klar und drastisch. Diese Verwaltungseinrichtung hat Fnad
Pascha, einer der hervorragendsten türkischen Staatsmänner aller Zeiten, ein¬
geführt. Danach besteht das türkische Reich mit Ausnahme der sogen, privile-
girten Provinzen (Rumänien, Serbien, Montenegro, Berg Athos, Insel Saiuos,
Aegypten, Tunis, Libanon) aus einer Anzahl Vilajets, d. h. Generalgouverne¬
ments, an deren Spitze ein Vali (Generalgouvemeur) steht. Jedes Vilajet
besteht aus drei oder vier Scindschaks (Kreisen oder Provinzen), von denen
jedes einen Mutessarif (Statthalter) hat. Jedes Sandschak enthält wieder
mehrere Kaza, von denen jedes durch einen Mudir (Amtmann oder Ver¬
walter) regiert wird. Das Militär in allen Gouvernements, mit Ausnahme
der entlegensten Provinzen, untersteht nicht dem Vali, sondern dem Kriegs¬
minister. Der Vali und die unteren Spitzen der Verwaltung haben nur
Polizeisoldaten zur Verfügung. Auch die richterlichen Beamten ressortiren
direkt von Konstantinopel, nicht von der Verwaltung. Die Finnnzangelege"-


etwa in den ersten Monaten nach dem Kriege geschrieben. Denn es ist in der
Hauptsache eine Tendenzschrift. Es soll zeigen, daß die ganze Staatswirth¬
schaft in Stambul, namentlich das sogen. Effendithnm, das wir etwa mit
Staatsbanditenthnm verdeutschen müssen, sich gründlich abgewirthschaftet habe,
daß die ganze zünftige Diplomatie, welche sich mit Lösung der orientalischen
Frage abmüht, von orientalischen Dingen im Allgemeinen und der lieben Noth¬
durft der Türkei insbesondere nichts versteht, und daß der einzige türkische
Staatsmann, der im Innern durch seine Amtsthätigkeit in Bulgarien und
Bagdad und später als Minister, wie in der äußeren Politik durch die von
ihm ausgehende Entthronung des unnützen russenfreundlichen Sultans Abdul
Aziz, durch die Errichtung des türkischen Parlaments und die Energie seines
national-türkischen Standpunktes Leibliches geschaffen, daß dieser einzige Minister,
Midhat Pascha, im Auslande als Verbannter weile. Dem Verfasser, der diese Gegen¬
sätze anschaulich macheu wollte, mußten die ersten, den Türken so ungünstigen Monate
nach Beginn des Krieges für seine Zwecke besonders geeignet erscheinen. Auch
daß das Buch in Deutschland und in deutscher Sprache erschienen ist, ent¬
spricht dieser Annahme. Im Deutschen Reiche und in Deutschösterreich hatte
die Türkei, oder richtiger die Partei Midhat Pascha's, bei Volk und Regie¬
rung noch am meisten aufzuklären, mußte sie die erheblichsten Anstrengungen
machen, wenn sie Sympathien erwerben wollte.

Die scharfe und fast grimmige Verurtheilung der Mißverwaltung der
türkischen Provinzen, welche uns der Verfasser in seiner ersten Abhandlung
bietet, zielt natürlich ans denselben Zweck ab. Sie soll zeigen, wo die Hand
der Reform zuerst angelegt werden muß. Die Uebersicht über die Behörden¬
organisation in den türkischen Provinzen, welche die ersten Seiten uns bieten,
ist außerordentlich klar und drastisch. Diese Verwaltungseinrichtung hat Fnad
Pascha, einer der hervorragendsten türkischen Staatsmänner aller Zeiten, ein¬
geführt. Danach besteht das türkische Reich mit Ausnahme der sogen, privile-
girten Provinzen (Rumänien, Serbien, Montenegro, Berg Athos, Insel Saiuos,
Aegypten, Tunis, Libanon) aus einer Anzahl Vilajets, d. h. Generalgouverne¬
ments, an deren Spitze ein Vali (Generalgouvemeur) steht. Jedes Vilajet
besteht aus drei oder vier Scindschaks (Kreisen oder Provinzen), von denen
jedes einen Mutessarif (Statthalter) hat. Jedes Sandschak enthält wieder
mehrere Kaza, von denen jedes durch einen Mudir (Amtmann oder Ver¬
walter) regiert wird. Das Militär in allen Gouvernements, mit Ausnahme
der entlegensten Provinzen, untersteht nicht dem Vali, sondern dem Kriegs¬
minister. Der Vali und die unteren Spitzen der Verwaltung haben nur
Polizeisoldaten zur Verfügung. Auch die richterlichen Beamten ressortiren
direkt von Konstantinopel, nicht von der Verwaltung. Die Finnnzangelege»-


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[0472] etwa in den ersten Monaten nach dem Kriege geschrieben. Denn es ist in der Hauptsache eine Tendenzschrift. Es soll zeigen, daß die ganze Staatswirth¬ schaft in Stambul, namentlich das sogen. Effendithnm, das wir etwa mit Staatsbanditenthnm verdeutschen müssen, sich gründlich abgewirthschaftet habe, daß die ganze zünftige Diplomatie, welche sich mit Lösung der orientalischen Frage abmüht, von orientalischen Dingen im Allgemeinen und der lieben Noth¬ durft der Türkei insbesondere nichts versteht, und daß der einzige türkische Staatsmann, der im Innern durch seine Amtsthätigkeit in Bulgarien und Bagdad und später als Minister, wie in der äußeren Politik durch die von ihm ausgehende Entthronung des unnützen russenfreundlichen Sultans Abdul Aziz, durch die Errichtung des türkischen Parlaments und die Energie seines national-türkischen Standpunktes Leibliches geschaffen, daß dieser einzige Minister, Midhat Pascha, im Auslande als Verbannter weile. Dem Verfasser, der diese Gegen¬ sätze anschaulich macheu wollte, mußten die ersten, den Türken so ungünstigen Monate nach Beginn des Krieges für seine Zwecke besonders geeignet erscheinen. Auch daß das Buch in Deutschland und in deutscher Sprache erschienen ist, ent¬ spricht dieser Annahme. Im Deutschen Reiche und in Deutschösterreich hatte die Türkei, oder richtiger die Partei Midhat Pascha's, bei Volk und Regie¬ rung noch am meisten aufzuklären, mußte sie die erheblichsten Anstrengungen machen, wenn sie Sympathien erwerben wollte. Die scharfe und fast grimmige Verurtheilung der Mißverwaltung der türkischen Provinzen, welche uns der Verfasser in seiner ersten Abhandlung bietet, zielt natürlich ans denselben Zweck ab. Sie soll zeigen, wo die Hand der Reform zuerst angelegt werden muß. Die Uebersicht über die Behörden¬ organisation in den türkischen Provinzen, welche die ersten Seiten uns bieten, ist außerordentlich klar und drastisch. Diese Verwaltungseinrichtung hat Fnad Pascha, einer der hervorragendsten türkischen Staatsmänner aller Zeiten, ein¬ geführt. Danach besteht das türkische Reich mit Ausnahme der sogen, privile- girten Provinzen (Rumänien, Serbien, Montenegro, Berg Athos, Insel Saiuos, Aegypten, Tunis, Libanon) aus einer Anzahl Vilajets, d. h. Generalgouverne¬ ments, an deren Spitze ein Vali (Generalgouvemeur) steht. Jedes Vilajet besteht aus drei oder vier Scindschaks (Kreisen oder Provinzen), von denen jedes einen Mutessarif (Statthalter) hat. Jedes Sandschak enthält wieder mehrere Kaza, von denen jedes durch einen Mudir (Amtmann oder Ver¬ walter) regiert wird. Das Militär in allen Gouvernements, mit Ausnahme der entlegensten Provinzen, untersteht nicht dem Vali, sondern dem Kriegs¬ minister. Der Vali und die unteren Spitzen der Verwaltung haben nur Polizeisoldaten zur Verfügung. Auch die richterlichen Beamten ressortiren direkt von Konstantinopel, nicht von der Verwaltung. Die Finnnzangelege»-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/472>, abgerufen am 22.07.2024.