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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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der Verfasser versucht, längst einen vorläufigen Abschluß gefunden haben wird.
Denn mag nun der Verfasser, der sich unter dem bescheidenen Namen eines
..Osmanen" verbirgt, wirklich kein Geringerer sein, als Midhat Pascha,
wie öffentlich ohne Widerlegung behauptet wurde, und wie gewisse sehr lebhafte
Exkurse und gewisse Enthüllungen, die nur der in Ungnade gefallene türkische
Minister geben konnte, andeuten - er ist jedenfalls vorzüglich unterrichtet
über das, was er schreibt, und das ist immer viel, geradezu die Hauptsache;
namentlich wenn man sich so bedeutende und umfassende Ausgaben stellt, wie
der Verfasser. Wenige Bücher über die Finanzverwaltung, die öffentlichen
Arbeiten, Ackerbau. Industrie, Handel, Schifffahrt, die auswärtigen Verhältnisse
und Diplomatie, die Verwaltung der Provinzen des osmanischen Reiches,
werden so zuverlässige, gründliche und vielseitige Auskunft ertheilen, wenige
vor Allem die leitenden Staatsmänner der Türkei in ihrem Werden und
Wirken so lebendig und greifbar schildern, wie dieses Buch.

Unparteilichkeit ist dem Verfasser, der mit lebhafter Theilnahme den für
seinen Staat entscheidenden Ereignissen der Gegenwart folgt, und ehrlich ein¬
gesteht, daß das Staatsgebäude der Türkei von Grund aus faul ist, natürlich
nur bis zu einem gewissen Grade nachzurühmen. Er müßte nicht Mensch, vor
Allem nicht heißblütiger Orientale sein, um kalten Sinnes und mit historischer
Objektivität zuzuschauen, wie die furchtbaren Sünden, die seit Jahrhunderten im
Reiche der Sultane sich fortgeerbt haben, und die in unsern Tagen in der unna¬
türlichen Verbindung der großen Welt Stambuls mit westeuropäischem Raffinement
auf die Höhe getrieben wurden, nnn in abschreckender Deutlichkeit hervortreten
w dem Kampf auf Leben und Tod, den Rußland der Türkei aufgezwungen.
Aber niemand, der moderne türkische Zustände schildert, wird die kühle Ruhe
des Geschichtsschreibers finden, er mag einem Glauben und Volke angehören,
welchem er will. Selbst Moltke's berühmtes Buch über die Türkei steht an
Objektivität weit hinter den Generalstabswerken des großen Strategen. Der
lebhafte Antheil, den der Verfasser der uns vorliegenden Schrift an den Ge¬
schicken seines Heimathlandes nimmt, mag entschuldigen, daß er vielleicht zu
einfache Formeln wählt, um die Radikalkur anzuwenden auf die Zustände
die er tadelt - Formeln, die in unsern Augen zum Theil eine große Aehn-
Uchkeit mit Phrasen haben. Dieselbe persönliche Theilnahme, mag manches
der uns gezeichneten Bilder in eine zu einseitige Beleuchtung gerückt, manchen
der heutigen Staatsmänner der Türkei und noch mehr die des Auslandes un¬
gerecht verkleinert haben. Aber das muß dem Versasser auch ein Gegner seines
Standpunktes zugestehen: er bietet uns das ganze Material, das ihm zu Gebote
stand, in allen Fragen, die er sich stellt. Es ist unsere Sache, zu andern
Schlüssen zu gelangen, wie er.


Grenzboten IV. 1V77. ^

der Verfasser versucht, längst einen vorläufigen Abschluß gefunden haben wird.
Denn mag nun der Verfasser, der sich unter dem bescheidenen Namen eines
..Osmanen" verbirgt, wirklich kein Geringerer sein, als Midhat Pascha,
wie öffentlich ohne Widerlegung behauptet wurde, und wie gewisse sehr lebhafte
Exkurse und gewisse Enthüllungen, die nur der in Ungnade gefallene türkische
Minister geben konnte, andeuten - er ist jedenfalls vorzüglich unterrichtet
über das, was er schreibt, und das ist immer viel, geradezu die Hauptsache;
namentlich wenn man sich so bedeutende und umfassende Ausgaben stellt, wie
der Verfasser. Wenige Bücher über die Finanzverwaltung, die öffentlichen
Arbeiten, Ackerbau. Industrie, Handel, Schifffahrt, die auswärtigen Verhältnisse
und Diplomatie, die Verwaltung der Provinzen des osmanischen Reiches,
werden so zuverlässige, gründliche und vielseitige Auskunft ertheilen, wenige
vor Allem die leitenden Staatsmänner der Türkei in ihrem Werden und
Wirken so lebendig und greifbar schildern, wie dieses Buch.

Unparteilichkeit ist dem Verfasser, der mit lebhafter Theilnahme den für
seinen Staat entscheidenden Ereignissen der Gegenwart folgt, und ehrlich ein¬
gesteht, daß das Staatsgebäude der Türkei von Grund aus faul ist, natürlich
nur bis zu einem gewissen Grade nachzurühmen. Er müßte nicht Mensch, vor
Allem nicht heißblütiger Orientale sein, um kalten Sinnes und mit historischer
Objektivität zuzuschauen, wie die furchtbaren Sünden, die seit Jahrhunderten im
Reiche der Sultane sich fortgeerbt haben, und die in unsern Tagen in der unna¬
türlichen Verbindung der großen Welt Stambuls mit westeuropäischem Raffinement
auf die Höhe getrieben wurden, nnn in abschreckender Deutlichkeit hervortreten
w dem Kampf auf Leben und Tod, den Rußland der Türkei aufgezwungen.
Aber niemand, der moderne türkische Zustände schildert, wird die kühle Ruhe
des Geschichtsschreibers finden, er mag einem Glauben und Volke angehören,
welchem er will. Selbst Moltke's berühmtes Buch über die Türkei steht an
Objektivität weit hinter den Generalstabswerken des großen Strategen. Der
lebhafte Antheil, den der Verfasser der uns vorliegenden Schrift an den Ge¬
schicken seines Heimathlandes nimmt, mag entschuldigen, daß er vielleicht zu
einfache Formeln wählt, um die Radikalkur anzuwenden auf die Zustände
die er tadelt - Formeln, die in unsern Augen zum Theil eine große Aehn-
Uchkeit mit Phrasen haben. Dieselbe persönliche Theilnahme, mag manches
der uns gezeichneten Bilder in eine zu einseitige Beleuchtung gerückt, manchen
der heutigen Staatsmänner der Türkei und noch mehr die des Auslandes un¬
gerecht verkleinert haben. Aber das muß dem Versasser auch ein Gegner seines
Standpunktes zugestehen: er bietet uns das ganze Material, das ihm zu Gebote
stand, in allen Fragen, die er sich stellt. Es ist unsere Sache, zu andern
Schlüssen zu gelangen, wie er.


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[0469] der Verfasser versucht, längst einen vorläufigen Abschluß gefunden haben wird. Denn mag nun der Verfasser, der sich unter dem bescheidenen Namen eines ..Osmanen" verbirgt, wirklich kein Geringerer sein, als Midhat Pascha, wie öffentlich ohne Widerlegung behauptet wurde, und wie gewisse sehr lebhafte Exkurse und gewisse Enthüllungen, die nur der in Ungnade gefallene türkische Minister geben konnte, andeuten - er ist jedenfalls vorzüglich unterrichtet über das, was er schreibt, und das ist immer viel, geradezu die Hauptsache; namentlich wenn man sich so bedeutende und umfassende Ausgaben stellt, wie der Verfasser. Wenige Bücher über die Finanzverwaltung, die öffentlichen Arbeiten, Ackerbau. Industrie, Handel, Schifffahrt, die auswärtigen Verhältnisse und Diplomatie, die Verwaltung der Provinzen des osmanischen Reiches, werden so zuverlässige, gründliche und vielseitige Auskunft ertheilen, wenige vor Allem die leitenden Staatsmänner der Türkei in ihrem Werden und Wirken so lebendig und greifbar schildern, wie dieses Buch. Unparteilichkeit ist dem Verfasser, der mit lebhafter Theilnahme den für seinen Staat entscheidenden Ereignissen der Gegenwart folgt, und ehrlich ein¬ gesteht, daß das Staatsgebäude der Türkei von Grund aus faul ist, natürlich nur bis zu einem gewissen Grade nachzurühmen. Er müßte nicht Mensch, vor Allem nicht heißblütiger Orientale sein, um kalten Sinnes und mit historischer Objektivität zuzuschauen, wie die furchtbaren Sünden, die seit Jahrhunderten im Reiche der Sultane sich fortgeerbt haben, und die in unsern Tagen in der unna¬ türlichen Verbindung der großen Welt Stambuls mit westeuropäischem Raffinement auf die Höhe getrieben wurden, nnn in abschreckender Deutlichkeit hervortreten w dem Kampf auf Leben und Tod, den Rußland der Türkei aufgezwungen. Aber niemand, der moderne türkische Zustände schildert, wird die kühle Ruhe des Geschichtsschreibers finden, er mag einem Glauben und Volke angehören, welchem er will. Selbst Moltke's berühmtes Buch über die Türkei steht an Objektivität weit hinter den Generalstabswerken des großen Strategen. Der lebhafte Antheil, den der Verfasser der uns vorliegenden Schrift an den Ge¬ schicken seines Heimathlandes nimmt, mag entschuldigen, daß er vielleicht zu einfache Formeln wählt, um die Radikalkur anzuwenden auf die Zustände die er tadelt - Formeln, die in unsern Augen zum Theil eine große Aehn- Uchkeit mit Phrasen haben. Dieselbe persönliche Theilnahme, mag manches der uns gezeichneten Bilder in eine zu einseitige Beleuchtung gerückt, manchen der heutigen Staatsmänner der Türkei und noch mehr die des Auslandes un¬ gerecht verkleinert haben. Aber das muß dem Versasser auch ein Gegner seines Standpunktes zugestehen: er bietet uns das ganze Material, das ihm zu Gebote stand, in allen Fragen, die er sich stellt. Es ist unsere Sache, zu andern Schlüssen zu gelangen, wie er. Grenzboten IV. 1V77. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/469>, abgerufen am 22.07.2024.