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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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Sozialistische KljroniK.

Es ist unveräußerliche Menschenart, von einem Extrem ins andere zu
taumeln. Erst durch den "Choc" und "Gegenchoe", um mit dem Dorfchirurgus
in Immermann's "Münchhausen" zu reden, stellt sich das richtige Gleichgewicht,
die goldene Mitte her, laugsam und schwerfällig, aber auch siegreich und un-
widerstehlich, wie es eben in der Natur des gesunden Menschenverstandes liegt.
Nach dem "Choc" des vornehmen Jgnorirens der sozialistischen Bewegung be¬
finden wir uns augenblicklich in dem Stadium des "Gegenchocs", in welchem
"n minder vornehmes Kokettiren mit der relativen Berechtigung der weltum-
stürzlerischen Bestrebungen an der Tagesordnung ist. Namentlich die reaktionär-
ultramontanen Parteien gefallen sich darin den Schildbürgern gleich, die den
Ast absägen, ans dem sie selber sitzen, die Kritik des Sozialismus an der
wirtschaftlichen Ordnung der heutigen Gesellschaft als unwiderleglich zu rühmen.
Die dickleibigen Pamphlete, welche eben der evangelische Geistliche Todt und
der katholische Convertit Fürst Jsenburg-Birstein auf deu Markt geworfen
haben, find von A bis Z Variationen auf das Thema, daß die liberalen
Parteien die Sozialwnokmtie wohl "todtzuschweigen", aber nicht zu widerlegen
"erstanden. Dabei zehren die Wackern bis auf ,den letzten Brosamen ihrer
sozialpolitischen Weisheit von dem Tische, den Rudolf Meyer in seinem "Eman-
zipationskmnpse des vierten Standes" gedeckt hat. Rudolf Meyer wäre viel¬
leicht der einzige konservative Parteipublizist, welcher an eingehender Beachtung
des sozialdemokratischen Treibens der liberalen Presse voraus gewesen fein
würde, wenn er nur ebeu ein konservativer Publizist und nicht vielmehr ein
kryptosozialistischer Parteigänger wäre.

Gewiß ist es wünschenswert!), daß Seitens der liberalen Parteien den
Wühlern des Zukunftstaates noch genauer und schärfer auf die Finger gesehen
wird, als es Augenblicklich geschieht. Um nicht unbillig zu urtheilen, darf
man allerdings eins nicht übersehen: die gallertartige, muskellose Natur des


Greuzbvwl IV. 1377. ^
Sozialistische KljroniK.

Es ist unveräußerliche Menschenart, von einem Extrem ins andere zu
taumeln. Erst durch den „Choc" und „Gegenchoe", um mit dem Dorfchirurgus
in Immermann's „Münchhausen" zu reden, stellt sich das richtige Gleichgewicht,
die goldene Mitte her, laugsam und schwerfällig, aber auch siegreich und un-
widerstehlich, wie es eben in der Natur des gesunden Menschenverstandes liegt.
Nach dem „Choc" des vornehmen Jgnorirens der sozialistischen Bewegung be¬
finden wir uns augenblicklich in dem Stadium des „Gegenchocs", in welchem
«n minder vornehmes Kokettiren mit der relativen Berechtigung der weltum-
stürzlerischen Bestrebungen an der Tagesordnung ist. Namentlich die reaktionär-
ultramontanen Parteien gefallen sich darin den Schildbürgern gleich, die den
Ast absägen, ans dem sie selber sitzen, die Kritik des Sozialismus an der
wirtschaftlichen Ordnung der heutigen Gesellschaft als unwiderleglich zu rühmen.
Die dickleibigen Pamphlete, welche eben der evangelische Geistliche Todt und
der katholische Convertit Fürst Jsenburg-Birstein auf deu Markt geworfen
haben, find von A bis Z Variationen auf das Thema, daß die liberalen
Parteien die Sozialwnokmtie wohl „todtzuschweigen", aber nicht zu widerlegen
»erstanden. Dabei zehren die Wackern bis auf ,den letzten Brosamen ihrer
sozialpolitischen Weisheit von dem Tische, den Rudolf Meyer in seinem „Eman-
zipationskmnpse des vierten Standes" gedeckt hat. Rudolf Meyer wäre viel¬
leicht der einzige konservative Parteipublizist, welcher an eingehender Beachtung
des sozialdemokratischen Treibens der liberalen Presse voraus gewesen fein
würde, wenn er nur ebeu ein konservativer Publizist und nicht vielmehr ein
kryptosozialistischer Parteigänger wäre.

Gewiß ist es wünschenswert!), daß Seitens der liberalen Parteien den
Wühlern des Zukunftstaates noch genauer und schärfer auf die Finger gesehen
wird, als es Augenblicklich geschieht. Um nicht unbillig zu urtheilen, darf
man allerdings eins nicht übersehen: die gallertartige, muskellose Natur des


Greuzbvwl IV. 1377. ^
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[0445] Sozialistische KljroniK. Es ist unveräußerliche Menschenart, von einem Extrem ins andere zu taumeln. Erst durch den „Choc" und „Gegenchoe", um mit dem Dorfchirurgus in Immermann's „Münchhausen" zu reden, stellt sich das richtige Gleichgewicht, die goldene Mitte her, laugsam und schwerfällig, aber auch siegreich und un- widerstehlich, wie es eben in der Natur des gesunden Menschenverstandes liegt. Nach dem „Choc" des vornehmen Jgnorirens der sozialistischen Bewegung be¬ finden wir uns augenblicklich in dem Stadium des „Gegenchocs", in welchem «n minder vornehmes Kokettiren mit der relativen Berechtigung der weltum- stürzlerischen Bestrebungen an der Tagesordnung ist. Namentlich die reaktionär- ultramontanen Parteien gefallen sich darin den Schildbürgern gleich, die den Ast absägen, ans dem sie selber sitzen, die Kritik des Sozialismus an der wirtschaftlichen Ordnung der heutigen Gesellschaft als unwiderleglich zu rühmen. Die dickleibigen Pamphlete, welche eben der evangelische Geistliche Todt und der katholische Convertit Fürst Jsenburg-Birstein auf deu Markt geworfen haben, find von A bis Z Variationen auf das Thema, daß die liberalen Parteien die Sozialwnokmtie wohl „todtzuschweigen", aber nicht zu widerlegen »erstanden. Dabei zehren die Wackern bis auf ,den letzten Brosamen ihrer sozialpolitischen Weisheit von dem Tische, den Rudolf Meyer in seinem „Eman- zipationskmnpse des vierten Standes" gedeckt hat. Rudolf Meyer wäre viel¬ leicht der einzige konservative Parteipublizist, welcher an eingehender Beachtung des sozialdemokratischen Treibens der liberalen Presse voraus gewesen fein würde, wenn er nur ebeu ein konservativer Publizist und nicht vielmehr ein kryptosozialistischer Parteigänger wäre. Gewiß ist es wünschenswert!), daß Seitens der liberalen Parteien den Wühlern des Zukunftstaates noch genauer und schärfer auf die Finger gesehen wird, als es Augenblicklich geschieht. Um nicht unbillig zu urtheilen, darf man allerdings eins nicht übersehen: die gallertartige, muskellose Natur des Greuzbvwl IV. 1377. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/445>, abgerufen am 01.09.2024.