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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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ihre Ländereien an Bauern, die sie selbst während eines Krieges nicht vom
Pfluge gehen lassen. Die Blutrache ist dem Tscherkessen heilig: doch kaun die
Familie des Ermordeten sich mit dein Mörder zu einer anderweitigen Ent-
schädigung einigen. Wenn es dem Mörder gelingt, ein Kind des Ermordeten
zu rauben und es zu erziehen, ist er vor jeder Rache und Strafe geschützt.
Wenn ein Adliger einen Bauern erschlägt, muß er für ihn nenn Sklaven
geben. Der Diebstahl ist beim Tscherkessen straflos, doch darf er sich nicht
auf der That ertappen lassen, denselben nicht so ausführen, daß er des Vergehens
überführt werden kann. Die höchste Strafe für den Tscherkessen ist - das
gestohlene Gut zurück erstatten zu müssen, nur das macht ihn schamroth. Der
geschickte Diebstahl steht bei allen in hoher Achtung; denn der Diebstahl ist ein
Beweis hohen Muthes. Die Ehelosigkeit widerstreitet dem Ehrgefühl des
Tscherkessen; wer bis zu einem gewissen Alter unverheirathet bleibt, fällt allge¬
meiner Verachtung anheim. Die Frau wird -- natürlich mit ihrer Einwilligung
^ geraubt; troßdem muß aber deu Eltern eine gewisse, vorher bestimmte
Summe (Kallym) gezahlt werdeu. Dieser Frauenraub ist übrigens zu eiuer
bloßen Ceremonie oder zu einer Art Spiel geworden, und die Verfolger schießen
schon seit lange nicht mehr mit Kugeln nach dem Räuber. Der Greis steht
in hoher Achtung; dagegen ist die Frau sehr despektirt. Es ist eine Beleidigung
sür den Mann, wenn man ihn nach dem Befinden seiner Frau frägt. Die
Beleibtheit ist eine Schande für Männer, wie für Frauen. Männer dürfen
sich nicht in Gesellschaft der Frauen und umgekehrt Frauen nicht in Gesell¬
schaft der Männer befinden. Ehescheidungen gehören bei den Tscherkessen zu
den-seltensten Fällen; Untreue der Frau wird mit dein Tode bestraft. Der
Knabe wird bei Fremden erzogen; es soll damit der Verweichlichung vorgebeugt
werden. Gewöhnlich wird er einem "Attalik" (Lehrer) zur Erziehung übergeben.
Diese besteht in Fechten, Reiten, Schießen, Jagen u. s. w. Der Attalik bemüht
sich, ans seinem Eleven einen abgehärteten Soldaten und einen abgefeimten
schlauen und verwegenen Dieb zu machen. Wenn diese Erziehung vollendet
ist, kehrt der Jüngling heim in's Vaterhaus. Der Glaube der Tscherkessen ist
ein Quodlibet von Christentum, das bei ihnen im V. Jahrhundert eingeführt
worden ist, von Islamismus und altem Heidenthum. Neben dem christlichen
Gotte und dem muhamedanischen Allah werden noch verehrt: 1) Chible, der
Gott der Blitze, des Krieges und der Gerechtigkeit; 2) Tleps, der Gott des
Feuers; 3) So'serech (Seoseros?), der Gott des Wassers und der Winde;
4) Sekntcha, der Gott der Reisenden, der Gastfreundschaft und Wohlthätigkeit;
5) Mesitza, der Gott des Waldes und Schattens (ein Verbrecher, dem es gelingt,
einen diesem Gotte geweihten Ort zu erreichen, darf nicht verfolgt werden);
6) Pekoach, die Göttin des Wassers, eine Art Najade; 7) Achin, der Gott des


ihre Ländereien an Bauern, die sie selbst während eines Krieges nicht vom
Pfluge gehen lassen. Die Blutrache ist dem Tscherkessen heilig: doch kaun die
Familie des Ermordeten sich mit dein Mörder zu einer anderweitigen Ent-
schädigung einigen. Wenn es dem Mörder gelingt, ein Kind des Ermordeten
zu rauben und es zu erziehen, ist er vor jeder Rache und Strafe geschützt.
Wenn ein Adliger einen Bauern erschlägt, muß er für ihn nenn Sklaven
geben. Der Diebstahl ist beim Tscherkessen straflos, doch darf er sich nicht
auf der That ertappen lassen, denselben nicht so ausführen, daß er des Vergehens
überführt werden kann. Die höchste Strafe für den Tscherkessen ist - das
gestohlene Gut zurück erstatten zu müssen, nur das macht ihn schamroth. Der
geschickte Diebstahl steht bei allen in hoher Achtung; denn der Diebstahl ist ein
Beweis hohen Muthes. Die Ehelosigkeit widerstreitet dem Ehrgefühl des
Tscherkessen; wer bis zu einem gewissen Alter unverheirathet bleibt, fällt allge¬
meiner Verachtung anheim. Die Frau wird — natürlich mit ihrer Einwilligung
^ geraubt; troßdem muß aber deu Eltern eine gewisse, vorher bestimmte
Summe (Kallym) gezahlt werdeu. Dieser Frauenraub ist übrigens zu eiuer
bloßen Ceremonie oder zu einer Art Spiel geworden, und die Verfolger schießen
schon seit lange nicht mehr mit Kugeln nach dem Räuber. Der Greis steht
in hoher Achtung; dagegen ist die Frau sehr despektirt. Es ist eine Beleidigung
sür den Mann, wenn man ihn nach dem Befinden seiner Frau frägt. Die
Beleibtheit ist eine Schande für Männer, wie für Frauen. Männer dürfen
sich nicht in Gesellschaft der Frauen und umgekehrt Frauen nicht in Gesell¬
schaft der Männer befinden. Ehescheidungen gehören bei den Tscherkessen zu
den-seltensten Fällen; Untreue der Frau wird mit dein Tode bestraft. Der
Knabe wird bei Fremden erzogen; es soll damit der Verweichlichung vorgebeugt
werden. Gewöhnlich wird er einem „Attalik" (Lehrer) zur Erziehung übergeben.
Diese besteht in Fechten, Reiten, Schießen, Jagen u. s. w. Der Attalik bemüht
sich, ans seinem Eleven einen abgehärteten Soldaten und einen abgefeimten
schlauen und verwegenen Dieb zu machen. Wenn diese Erziehung vollendet
ist, kehrt der Jüngling heim in's Vaterhaus. Der Glaube der Tscherkessen ist
ein Quodlibet von Christentum, das bei ihnen im V. Jahrhundert eingeführt
worden ist, von Islamismus und altem Heidenthum. Neben dem christlichen
Gotte und dem muhamedanischen Allah werden noch verehrt: 1) Chible, der
Gott der Blitze, des Krieges und der Gerechtigkeit; 2) Tleps, der Gott des
Feuers; 3) So'serech (Seoseros?), der Gott des Wassers und der Winde;
4) Sekntcha, der Gott der Reisenden, der Gastfreundschaft und Wohlthätigkeit;
5) Mesitza, der Gott des Waldes und Schattens (ein Verbrecher, dem es gelingt,
einen diesem Gotte geweihten Ort zu erreichen, darf nicht verfolgt werden);
6) Pekoach, die Göttin des Wassers, eine Art Najade; 7) Achin, der Gott des


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[0395] ihre Ländereien an Bauern, die sie selbst während eines Krieges nicht vom Pfluge gehen lassen. Die Blutrache ist dem Tscherkessen heilig: doch kaun die Familie des Ermordeten sich mit dein Mörder zu einer anderweitigen Ent- schädigung einigen. Wenn es dem Mörder gelingt, ein Kind des Ermordeten zu rauben und es zu erziehen, ist er vor jeder Rache und Strafe geschützt. Wenn ein Adliger einen Bauern erschlägt, muß er für ihn nenn Sklaven geben. Der Diebstahl ist beim Tscherkessen straflos, doch darf er sich nicht auf der That ertappen lassen, denselben nicht so ausführen, daß er des Vergehens überführt werden kann. Die höchste Strafe für den Tscherkessen ist - das gestohlene Gut zurück erstatten zu müssen, nur das macht ihn schamroth. Der geschickte Diebstahl steht bei allen in hoher Achtung; denn der Diebstahl ist ein Beweis hohen Muthes. Die Ehelosigkeit widerstreitet dem Ehrgefühl des Tscherkessen; wer bis zu einem gewissen Alter unverheirathet bleibt, fällt allge¬ meiner Verachtung anheim. Die Frau wird — natürlich mit ihrer Einwilligung ^ geraubt; troßdem muß aber deu Eltern eine gewisse, vorher bestimmte Summe (Kallym) gezahlt werdeu. Dieser Frauenraub ist übrigens zu eiuer bloßen Ceremonie oder zu einer Art Spiel geworden, und die Verfolger schießen schon seit lange nicht mehr mit Kugeln nach dem Räuber. Der Greis steht in hoher Achtung; dagegen ist die Frau sehr despektirt. Es ist eine Beleidigung sür den Mann, wenn man ihn nach dem Befinden seiner Frau frägt. Die Beleibtheit ist eine Schande für Männer, wie für Frauen. Männer dürfen sich nicht in Gesellschaft der Frauen und umgekehrt Frauen nicht in Gesell¬ schaft der Männer befinden. Ehescheidungen gehören bei den Tscherkessen zu den-seltensten Fällen; Untreue der Frau wird mit dein Tode bestraft. Der Knabe wird bei Fremden erzogen; es soll damit der Verweichlichung vorgebeugt werden. Gewöhnlich wird er einem „Attalik" (Lehrer) zur Erziehung übergeben. Diese besteht in Fechten, Reiten, Schießen, Jagen u. s. w. Der Attalik bemüht sich, ans seinem Eleven einen abgehärteten Soldaten und einen abgefeimten schlauen und verwegenen Dieb zu machen. Wenn diese Erziehung vollendet ist, kehrt der Jüngling heim in's Vaterhaus. Der Glaube der Tscherkessen ist ein Quodlibet von Christentum, das bei ihnen im V. Jahrhundert eingeführt worden ist, von Islamismus und altem Heidenthum. Neben dem christlichen Gotte und dem muhamedanischen Allah werden noch verehrt: 1) Chible, der Gott der Blitze, des Krieges und der Gerechtigkeit; 2) Tleps, der Gott des Feuers; 3) So'serech (Seoseros?), der Gott des Wassers und der Winde; 4) Sekntcha, der Gott der Reisenden, der Gastfreundschaft und Wohlthätigkeit; 5) Mesitza, der Gott des Waldes und Schattens (ein Verbrecher, dem es gelingt, einen diesem Gotte geweihten Ort zu erreichen, darf nicht verfolgt werden); 6) Pekoach, die Göttin des Wassers, eine Art Najade; 7) Achin, der Gott des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/395>, abgerufen am 27.09.2024.