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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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ihr genähert hat, ist man enttäuscht, denn man findet kein Leben in dem großen
Auge; in dem wunderschönen Gesichte lebt kein Gefühl. Die europäische Frau
gewinnt, selbst wenn sie nicht schön ist, häufig um so mehr, je mehr wir uns
ihr nähern; ein Gesicht, das ans einiger Entfernung ausdruckslos erscheint,
kaun uns oft durch das Geistige, das wir in seinen Zügen bei naher Betrach¬
tung ausgeprägt finden, fesseln. Niemals aber dasjenige der Grusierin. Der
Fuß der Grusierin ist klein, umschlossen von niedlichen Pantoffeln, die ihn nur
noch netter zu machen scheinen; von den weiten, faltigen, am Knöchel zusammen¬
gezogenen Pluderhosen wird er indeß für unser Auge fast ganz verdeckt. Der
Kopfputz hat die Form eines Diadems; auch der zierliche und würdevolle
Gang hat etwas majestätisches.

Die Kleidung der Männer ist höchst malerisch; sie besteht aus einer hohen
schwarzen Schaf- oder Lammfellmütze (Kvlpack), aus langen, bis an's Knie rei¬
chenden hellfarbigen Stiefeln, schwarzen breiten Hosen, deren Falten die Stiefel
theilweise bedecken, ans einem seidenen Kamisol (Beschulet) und einem weiten
verschiedenfarbigen Ueberrock aus Tuch oder Sammet, der mit goldenen oder
silbernen Tressen besetzt ist. Die Aermel sind aufgeschlitzt und werden über
die Schulter geworfen. Ein tscherkcssischer Säbel, ein langer Dolch (Kindschal)
und ein Paar Pistolen bilden den nothwendigen Bestandtheil der Bekleidung.
Die Grusier sind ungemein tapfer und ehrliebend, doch zeichnen sie sich weder
durch Fleiß, noch auch durch Talente und Neigung zu den Wissenschaften aus.
Der Handel wie die Industrie in Grusien liegt fast ganz in den Händen der
Armenier, während die Einheimischen sich mehr mit Ackerbau, Viehzucht und
Kultur des Weinstockes beschäftigen. Dem Bekenntnisse nach gehören sie der
orientalischen Kirche an und dieses schließt sie enger an die Russen als an ihre
muhamedciuischen Landsleute an. Von ihnen hat Rußland während eines
Aufstnndes in Kaukasien nicht nur nichts zu fürchten, sondern es kann sogar
leder Unterstützung ihrerseits versichert sein. Ein vollkommener Sieg der
Dscherkesseu, ein Losreißung von Rußland, hätte sie der Verfolgung der Sieger
preisgegeben.

Neben den Grusiern, und theilweise init ihnen vermischt, leben die Inguschen,
Listen und Osjetynzen, welche jedoch im Kaukasus nie eine hervorragende Rolle
^spielt haben, seit langer Zeit Rußland unterthänig sind und von einigen als
Ueberbleibsel der alten Polowzer, von andern als ein germanischer Volksstamm,
^'vn noch andern als Stammväter der Jrländer betrachtet werden. Ihr Aus¬
sahen ist in der That ein nahezu germanisches; das Haar ist fast durchgängig
blond, die Augen sind blau. Sie zeichnen sich dnrch ein ruhiges Temperament
aus und befassen sich init Ackerbau und Viehzucht. Da sie in früheren Zeiten
^ Reihe nach von den Grnsiern, Türken und Persern unterjocht waren,


ihr genähert hat, ist man enttäuscht, denn man findet kein Leben in dem großen
Auge; in dem wunderschönen Gesichte lebt kein Gefühl. Die europäische Frau
gewinnt, selbst wenn sie nicht schön ist, häufig um so mehr, je mehr wir uns
ihr nähern; ein Gesicht, das ans einiger Entfernung ausdruckslos erscheint,
kaun uns oft durch das Geistige, das wir in seinen Zügen bei naher Betrach¬
tung ausgeprägt finden, fesseln. Niemals aber dasjenige der Grusierin. Der
Fuß der Grusierin ist klein, umschlossen von niedlichen Pantoffeln, die ihn nur
noch netter zu machen scheinen; von den weiten, faltigen, am Knöchel zusammen¬
gezogenen Pluderhosen wird er indeß für unser Auge fast ganz verdeckt. Der
Kopfputz hat die Form eines Diadems; auch der zierliche und würdevolle
Gang hat etwas majestätisches.

Die Kleidung der Männer ist höchst malerisch; sie besteht aus einer hohen
schwarzen Schaf- oder Lammfellmütze (Kvlpack), aus langen, bis an's Knie rei¬
chenden hellfarbigen Stiefeln, schwarzen breiten Hosen, deren Falten die Stiefel
theilweise bedecken, ans einem seidenen Kamisol (Beschulet) und einem weiten
verschiedenfarbigen Ueberrock aus Tuch oder Sammet, der mit goldenen oder
silbernen Tressen besetzt ist. Die Aermel sind aufgeschlitzt und werden über
die Schulter geworfen. Ein tscherkcssischer Säbel, ein langer Dolch (Kindschal)
und ein Paar Pistolen bilden den nothwendigen Bestandtheil der Bekleidung.
Die Grusier sind ungemein tapfer und ehrliebend, doch zeichnen sie sich weder
durch Fleiß, noch auch durch Talente und Neigung zu den Wissenschaften aus.
Der Handel wie die Industrie in Grusien liegt fast ganz in den Händen der
Armenier, während die Einheimischen sich mehr mit Ackerbau, Viehzucht und
Kultur des Weinstockes beschäftigen. Dem Bekenntnisse nach gehören sie der
orientalischen Kirche an und dieses schließt sie enger an die Russen als an ihre
muhamedciuischen Landsleute an. Von ihnen hat Rußland während eines
Aufstnndes in Kaukasien nicht nur nichts zu fürchten, sondern es kann sogar
leder Unterstützung ihrerseits versichert sein. Ein vollkommener Sieg der
Dscherkesseu, ein Losreißung von Rußland, hätte sie der Verfolgung der Sieger
preisgegeben.

Neben den Grusiern, und theilweise init ihnen vermischt, leben die Inguschen,
Listen und Osjetynzen, welche jedoch im Kaukasus nie eine hervorragende Rolle
^spielt haben, seit langer Zeit Rußland unterthänig sind und von einigen als
Ueberbleibsel der alten Polowzer, von andern als ein germanischer Volksstamm,
^'vn noch andern als Stammväter der Jrländer betrachtet werden. Ihr Aus¬
sahen ist in der That ein nahezu germanisches; das Haar ist fast durchgängig
blond, die Augen sind blau. Sie zeichnen sich dnrch ein ruhiges Temperament
aus und befassen sich init Ackerbau und Viehzucht. Da sie in früheren Zeiten
^ Reihe nach von den Grnsiern, Türken und Persern unterjocht waren,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/393>, abgerufen am 02.10.2024.