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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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freudig. Augenblicklich fühlt er sich vou einer Anzahl Männer ergriffen, die
ihm trotz verzweifelten Widerstandes die Hände binden und auf einen Sattel
heben. Auf alle Beschwerden, alle Fragen über den Grund dieser Behandlung
erhält Lynde keine Antwort. Schweigend zieht der Zug dem Flecken zu. Auch
der weißhaarige alte Herr und der Schiffsbauer saßen gefesselt auf zwei
Pferden. Mantelsack und Sattel hatte man dem letzteren abgenommen. Immer
noch hielt Lynde sich, das Mädchen und den alten würdigen Herrn für die
Opfer eines schrecklichen Mißverständnisses. Laut protestirte er in seinem und
des Mädchens Namen, "Ich -- ich kenne sie einigermaßen." "O ja" --
sagte das Mädchen, indem sie demüthig die Hände über dem Schooß faltete,
"und ich kenne Sie auch und zwar sehr gut. Sie sind ja mein Mann."

Diese Aeußerung versetzt Lynde in sprachloses Erstannen. Die rauhen
Männer tauschen vergnügte Blicke, der Schiffsbauer macht seinen Gefühlen
durch ein seltsames trocknes Lachen Luft. Der geistliche Herr hat denselben
wohlwollenden und behaglichen Gesichtsausdruck wie immer. Keine Frage,
kein Zornesausbruch ist im Stande, Lynde eine Erklärung dieser räthselhaften
Dinge zu verschaffen, bis er und der ganze Zug endlich in dem rothen Ziegel¬
steingebäude verschwindet, dessen Thore krachend hinter der Gesellschaft zufliegen.
Ohne jedes Wort der Entschuldigung oder Aufklärung sieht sich Lynde im Hofe
rasch vom Sattel gehoben, entfesselt und dann in ein zellenartiges Zimmer ge¬
schoben und hier allein gelassen für etwa eine Stunde. Nach Ablauf dieser
Zeit tritt ein kleiner ältlicher Herr, der Doktor Pendegrast bei Lynde ein, der
ihm mit einem Male alle Räthsel lost.

Das Hans, in dem sich Lynde befindet, ist ein Asyl für Geisteskranke.
Am frühen Morgen ergriff eine Anzahl scheinbar harmloser Patienten einen
der Wärter nach dem andern, dann auch deu Doktor und sperrte sie in die
Zellen ein. Nur der zweite Aufwärter entkam und machte Allarm im Orte
und weiterhin, vergaß aber das Hofthor zu schließen. Der ganze Schwarm
der Verrückten ergoß sich über den Flecken -- es war die Menschenmenge, die
Lynde zuerst in den Straßen erblickte -- die Ortsbewohner verschanzten sich
in ihren Häusern; sie hatten auch Lynde sür einen Entsprungenen des Irren¬
hauses gehalten. Dasselbe hatten die Männer der Umgegend gethan, die unter
Führung des entkommenen Aufsehers, mit Pferden dem Ort zueilten, um die
Flüchtigen wieder einzuholen, als sie auf den aufgeregt und bciarhüuptig ein-
hereilenden Lynde stießen. So war er in die Zelle gekommen. Die Frage,
welche Lynde am schwersten ans dem Herzen liegt, wagt er zuletzt auch. "Und
das junge Mädchen", fragte er zögernd, "ist sie auch" --

"Ein sehr trauriger Fall", unterbrach ihn der Doktor Pendegrast, indem sich
wi zarterer Ausdruck über sein Gesicht legte. "Die traurigste Sache vo" der Welt."


Grenzlwten IV. 1877. 44

freudig. Augenblicklich fühlt er sich vou einer Anzahl Männer ergriffen, die
ihm trotz verzweifelten Widerstandes die Hände binden und auf einen Sattel
heben. Auf alle Beschwerden, alle Fragen über den Grund dieser Behandlung
erhält Lynde keine Antwort. Schweigend zieht der Zug dem Flecken zu. Auch
der weißhaarige alte Herr und der Schiffsbauer saßen gefesselt auf zwei
Pferden. Mantelsack und Sattel hatte man dem letzteren abgenommen. Immer
noch hielt Lynde sich, das Mädchen und den alten würdigen Herrn für die
Opfer eines schrecklichen Mißverständnisses. Laut protestirte er in seinem und
des Mädchens Namen, „Ich — ich kenne sie einigermaßen." „O ja" —
sagte das Mädchen, indem sie demüthig die Hände über dem Schooß faltete,
„und ich kenne Sie auch und zwar sehr gut. Sie sind ja mein Mann."

Diese Aeußerung versetzt Lynde in sprachloses Erstannen. Die rauhen
Männer tauschen vergnügte Blicke, der Schiffsbauer macht seinen Gefühlen
durch ein seltsames trocknes Lachen Luft. Der geistliche Herr hat denselben
wohlwollenden und behaglichen Gesichtsausdruck wie immer. Keine Frage,
kein Zornesausbruch ist im Stande, Lynde eine Erklärung dieser räthselhaften
Dinge zu verschaffen, bis er und der ganze Zug endlich in dem rothen Ziegel¬
steingebäude verschwindet, dessen Thore krachend hinter der Gesellschaft zufliegen.
Ohne jedes Wort der Entschuldigung oder Aufklärung sieht sich Lynde im Hofe
rasch vom Sattel gehoben, entfesselt und dann in ein zellenartiges Zimmer ge¬
schoben und hier allein gelassen für etwa eine Stunde. Nach Ablauf dieser
Zeit tritt ein kleiner ältlicher Herr, der Doktor Pendegrast bei Lynde ein, der
ihm mit einem Male alle Räthsel lost.

Das Hans, in dem sich Lynde befindet, ist ein Asyl für Geisteskranke.
Am frühen Morgen ergriff eine Anzahl scheinbar harmloser Patienten einen
der Wärter nach dem andern, dann auch deu Doktor und sperrte sie in die
Zellen ein. Nur der zweite Aufwärter entkam und machte Allarm im Orte
und weiterhin, vergaß aber das Hofthor zu schließen. Der ganze Schwarm
der Verrückten ergoß sich über den Flecken — es war die Menschenmenge, die
Lynde zuerst in den Straßen erblickte — die Ortsbewohner verschanzten sich
in ihren Häusern; sie hatten auch Lynde sür einen Entsprungenen des Irren¬
hauses gehalten. Dasselbe hatten die Männer der Umgegend gethan, die unter
Führung des entkommenen Aufsehers, mit Pferden dem Ort zueilten, um die
Flüchtigen wieder einzuholen, als sie auf den aufgeregt und bciarhüuptig ein-
hereilenden Lynde stießen. So war er in die Zelle gekommen. Die Frage,
welche Lynde am schwersten ans dem Herzen liegt, wagt er zuletzt auch. „Und
das junge Mädchen", fragte er zögernd, „ist sie auch" —

„Ein sehr trauriger Fall", unterbrach ihn der Doktor Pendegrast, indem sich
wi zarterer Ausdruck über sein Gesicht legte. „Die traurigste Sache vo» der Welt."


Grenzlwten IV. 1877. 44
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[0349] freudig. Augenblicklich fühlt er sich vou einer Anzahl Männer ergriffen, die ihm trotz verzweifelten Widerstandes die Hände binden und auf einen Sattel heben. Auf alle Beschwerden, alle Fragen über den Grund dieser Behandlung erhält Lynde keine Antwort. Schweigend zieht der Zug dem Flecken zu. Auch der weißhaarige alte Herr und der Schiffsbauer saßen gefesselt auf zwei Pferden. Mantelsack und Sattel hatte man dem letzteren abgenommen. Immer noch hielt Lynde sich, das Mädchen und den alten würdigen Herrn für die Opfer eines schrecklichen Mißverständnisses. Laut protestirte er in seinem und des Mädchens Namen, „Ich — ich kenne sie einigermaßen." „O ja" — sagte das Mädchen, indem sie demüthig die Hände über dem Schooß faltete, „und ich kenne Sie auch und zwar sehr gut. Sie sind ja mein Mann." Diese Aeußerung versetzt Lynde in sprachloses Erstannen. Die rauhen Männer tauschen vergnügte Blicke, der Schiffsbauer macht seinen Gefühlen durch ein seltsames trocknes Lachen Luft. Der geistliche Herr hat denselben wohlwollenden und behaglichen Gesichtsausdruck wie immer. Keine Frage, kein Zornesausbruch ist im Stande, Lynde eine Erklärung dieser räthselhaften Dinge zu verschaffen, bis er und der ganze Zug endlich in dem rothen Ziegel¬ steingebäude verschwindet, dessen Thore krachend hinter der Gesellschaft zufliegen. Ohne jedes Wort der Entschuldigung oder Aufklärung sieht sich Lynde im Hofe rasch vom Sattel gehoben, entfesselt und dann in ein zellenartiges Zimmer ge¬ schoben und hier allein gelassen für etwa eine Stunde. Nach Ablauf dieser Zeit tritt ein kleiner ältlicher Herr, der Doktor Pendegrast bei Lynde ein, der ihm mit einem Male alle Räthsel lost. Das Hans, in dem sich Lynde befindet, ist ein Asyl für Geisteskranke. Am frühen Morgen ergriff eine Anzahl scheinbar harmloser Patienten einen der Wärter nach dem andern, dann auch deu Doktor und sperrte sie in die Zellen ein. Nur der zweite Aufwärter entkam und machte Allarm im Orte und weiterhin, vergaß aber das Hofthor zu schließen. Der ganze Schwarm der Verrückten ergoß sich über den Flecken — es war die Menschenmenge, die Lynde zuerst in den Straßen erblickte — die Ortsbewohner verschanzten sich in ihren Häusern; sie hatten auch Lynde sür einen Entsprungenen des Irren¬ hauses gehalten. Dasselbe hatten die Männer der Umgegend gethan, die unter Führung des entkommenen Aufsehers, mit Pferden dem Ort zueilten, um die Flüchtigen wieder einzuholen, als sie auf den aufgeregt und bciarhüuptig ein- hereilenden Lynde stießen. So war er in die Zelle gekommen. Die Frage, welche Lynde am schwersten ans dem Herzen liegt, wagt er zuletzt auch. „Und das junge Mädchen", fragte er zögernd, „ist sie auch" — „Ein sehr trauriger Fall", unterbrach ihn der Doktor Pendegrast, indem sich wi zarterer Ausdruck über sein Gesicht legte. „Die traurigste Sache vo» der Welt." Grenzlwten IV. 1877. 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/349>, abgerufen am 25.08.2024.