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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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Stimmung ist derart, daß keiner ein Wort über die Lippen bringt. So liegen
wir noch, nachdem längst das ersehnte Mvrgengrau und Heller Tag angebrochen
- bis endlich etwas wie Sonnenschimmer matt das Zelt erhellt und unsere
erstarrten Lebensgeister wieder aufleben macht. Rüttelte man am Zelt, so
hörte man draußen thauendes Eis davon herabgleiten. Gillioz, dem Ausgang
zunächst, wagt zuerst die Nase hinauszustecken und vollends hinauszukriechen.
Auf seinen Ruf: es schneie nicht mehr, die Sonne mache Miene durchzubrechen
-- verlassen steif und starr auch die Andern ihr Lager. Um uns her ein
mißfarbenes Chaos wirrewogender Nebel, verschwommener Schneeflächen, finster
nnter Schneefestvns hervorblickender Klippen -- ein Bild desolaten Winters!
Wenigstens fußtief liegt der über Nacht gefallene Schnee, wo ihn der Wind
nicht weggefegt hat. Das Zelt ist über und über mit einer Halbzolldicken Eis-
nnd Reifkrnstc bedeckt, die an der östlichen Endseite der schwache Sonnen¬
schimmer abzulösen beginnt."

Ein ganz besonderer Reiz des vorliegenden Buches sind endlich die vvlks-
Psychologischen, kulturhistorischen und sozialen Beobachtungen, die der Verfasser
über die Bewohner der von ihm bereisten Alpenländer und ganze Klassen ihrer
Bewohner, immer in reinlichen individuelle:? Charakterbildern mittheilt. Der
erste, der uns menschlich näher tritt, ist ein Hirt ans dem Thale des Hinter¬
rheins beim Dörfchen Kanal. Weilenmann hat eben das Fanellahorn bestiegen.

"Jn's Schauen des magisch beleuchteten, ganz träumerisch uuter mir lie¬
genden Fanella-Thales vertieft, schien mir plötzlich, als hätte ich einen diesen
Höhen fremden Laut vernommen. Ich horche und höre deutlich ein gedämpftes
"Jnhuhu!" aus der Tiefe bringen. Den Jauchzer erwidernd und mit dem
Blick in der Richtung suchend, sehe ich mit Staunen einen kleinen schwarzen
Punkt über die soeben von mir überschrittene Firnterrasse hinan sich bewegen
und erkenne durch's Fernrohr den Hirten der Kanalalp, rüstig meinem Gipfel
zuschreitend, voran sein weißes Hündchen, bellend und springend. Man denke
sich meine Freude! . . . Denn so lachend der Himmel, so offen der Charakter
der Gegend, es hat doch immer was Drückendes, in solcher Höhe sich allein
zu finden, namentlich wenn man einen Gletschermarsch vor sich hat, über dessen
Ausgang man so sehr im Ungewissen ist. Was ihn nur da hinauf führen
mag? . . . Ich habe doch nichts vergessen? . . . Bei dem ehrlichen Manne
wäre es gut genug aufgehoben gewesen. Jetzt verschwindet er eine Weile am
Fuße des Gipfels . . . ., jetzt erscheint er wieder und ist mir endlich Auge zu
Auge, treuherzig mich grüßend und die Hand mir schüttelnd. Den Sonntag
Morgen näher dem Himmel zu feiern, der Wunder der Schöpfung sich zu
freuen, an ihnen sich zu erbauen . . . ., dann auch das Verlangen, mich noch
einmal zu sehe", ist's, was ihn heraufgebracht. Der Mann wird großer in


Gu'nzlwtt'N IV. 1"77. 4"

Stimmung ist derart, daß keiner ein Wort über die Lippen bringt. So liegen
wir noch, nachdem längst das ersehnte Mvrgengrau und Heller Tag angebrochen
- bis endlich etwas wie Sonnenschimmer matt das Zelt erhellt und unsere
erstarrten Lebensgeister wieder aufleben macht. Rüttelte man am Zelt, so
hörte man draußen thauendes Eis davon herabgleiten. Gillioz, dem Ausgang
zunächst, wagt zuerst die Nase hinauszustecken und vollends hinauszukriechen.
Auf seinen Ruf: es schneie nicht mehr, die Sonne mache Miene durchzubrechen
— verlassen steif und starr auch die Andern ihr Lager. Um uns her ein
mißfarbenes Chaos wirrewogender Nebel, verschwommener Schneeflächen, finster
nnter Schneefestvns hervorblickender Klippen — ein Bild desolaten Winters!
Wenigstens fußtief liegt der über Nacht gefallene Schnee, wo ihn der Wind
nicht weggefegt hat. Das Zelt ist über und über mit einer Halbzolldicken Eis-
nnd Reifkrnstc bedeckt, die an der östlichen Endseite der schwache Sonnen¬
schimmer abzulösen beginnt."

Ein ganz besonderer Reiz des vorliegenden Buches sind endlich die vvlks-
Psychologischen, kulturhistorischen und sozialen Beobachtungen, die der Verfasser
über die Bewohner der von ihm bereisten Alpenländer und ganze Klassen ihrer
Bewohner, immer in reinlichen individuelle:? Charakterbildern mittheilt. Der
erste, der uns menschlich näher tritt, ist ein Hirt ans dem Thale des Hinter¬
rheins beim Dörfchen Kanal. Weilenmann hat eben das Fanellahorn bestiegen.

„Jn's Schauen des magisch beleuchteten, ganz träumerisch uuter mir lie¬
genden Fanella-Thales vertieft, schien mir plötzlich, als hätte ich einen diesen
Höhen fremden Laut vernommen. Ich horche und höre deutlich ein gedämpftes
„Jnhuhu!" aus der Tiefe bringen. Den Jauchzer erwidernd und mit dem
Blick in der Richtung suchend, sehe ich mit Staunen einen kleinen schwarzen
Punkt über die soeben von mir überschrittene Firnterrasse hinan sich bewegen
und erkenne durch's Fernrohr den Hirten der Kanalalp, rüstig meinem Gipfel
zuschreitend, voran sein weißes Hündchen, bellend und springend. Man denke
sich meine Freude! . . . Denn so lachend der Himmel, so offen der Charakter
der Gegend, es hat doch immer was Drückendes, in solcher Höhe sich allein
zu finden, namentlich wenn man einen Gletschermarsch vor sich hat, über dessen
Ausgang man so sehr im Ungewissen ist. Was ihn nur da hinauf führen
mag? . . . Ich habe doch nichts vergessen? . . . Bei dem ehrlichen Manne
wäre es gut genug aufgehoben gewesen. Jetzt verschwindet er eine Weile am
Fuße des Gipfels . . . ., jetzt erscheint er wieder und ist mir endlich Auge zu
Auge, treuherzig mich grüßend und die Hand mir schüttelnd. Den Sonntag
Morgen näher dem Himmel zu feiern, der Wunder der Schöpfung sich zu
freuen, an ihnen sich zu erbauen . . . ., dann auch das Verlangen, mich noch
einmal zu sehe», ist's, was ihn heraufgebracht. Der Mann wird großer in


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[0317] Stimmung ist derart, daß keiner ein Wort über die Lippen bringt. So liegen wir noch, nachdem längst das ersehnte Mvrgengrau und Heller Tag angebrochen - bis endlich etwas wie Sonnenschimmer matt das Zelt erhellt und unsere erstarrten Lebensgeister wieder aufleben macht. Rüttelte man am Zelt, so hörte man draußen thauendes Eis davon herabgleiten. Gillioz, dem Ausgang zunächst, wagt zuerst die Nase hinauszustecken und vollends hinauszukriechen. Auf seinen Ruf: es schneie nicht mehr, die Sonne mache Miene durchzubrechen — verlassen steif und starr auch die Andern ihr Lager. Um uns her ein mißfarbenes Chaos wirrewogender Nebel, verschwommener Schneeflächen, finster nnter Schneefestvns hervorblickender Klippen — ein Bild desolaten Winters! Wenigstens fußtief liegt der über Nacht gefallene Schnee, wo ihn der Wind nicht weggefegt hat. Das Zelt ist über und über mit einer Halbzolldicken Eis- nnd Reifkrnstc bedeckt, die an der östlichen Endseite der schwache Sonnen¬ schimmer abzulösen beginnt." Ein ganz besonderer Reiz des vorliegenden Buches sind endlich die vvlks- Psychologischen, kulturhistorischen und sozialen Beobachtungen, die der Verfasser über die Bewohner der von ihm bereisten Alpenländer und ganze Klassen ihrer Bewohner, immer in reinlichen individuelle:? Charakterbildern mittheilt. Der erste, der uns menschlich näher tritt, ist ein Hirt ans dem Thale des Hinter¬ rheins beim Dörfchen Kanal. Weilenmann hat eben das Fanellahorn bestiegen. „Jn's Schauen des magisch beleuchteten, ganz träumerisch uuter mir lie¬ genden Fanella-Thales vertieft, schien mir plötzlich, als hätte ich einen diesen Höhen fremden Laut vernommen. Ich horche und höre deutlich ein gedämpftes „Jnhuhu!" aus der Tiefe bringen. Den Jauchzer erwidernd und mit dem Blick in der Richtung suchend, sehe ich mit Staunen einen kleinen schwarzen Punkt über die soeben von mir überschrittene Firnterrasse hinan sich bewegen und erkenne durch's Fernrohr den Hirten der Kanalalp, rüstig meinem Gipfel zuschreitend, voran sein weißes Hündchen, bellend und springend. Man denke sich meine Freude! . . . Denn so lachend der Himmel, so offen der Charakter der Gegend, es hat doch immer was Drückendes, in solcher Höhe sich allein zu finden, namentlich wenn man einen Gletschermarsch vor sich hat, über dessen Ausgang man so sehr im Ungewissen ist. Was ihn nur da hinauf führen mag? . . . Ich habe doch nichts vergessen? . . . Bei dem ehrlichen Manne wäre es gut genug aufgehoben gewesen. Jetzt verschwindet er eine Weile am Fuße des Gipfels . . . ., jetzt erscheint er wieder und ist mir endlich Auge zu Auge, treuherzig mich grüßend und die Hand mir schüttelnd. Den Sonntag Morgen näher dem Himmel zu feiern, der Wunder der Schöpfung sich zu freuen, an ihnen sich zu erbauen . . . ., dann auch das Verlangen, mich noch einmal zu sehe», ist's, was ihn heraufgebracht. Der Mann wird großer in Gu'nzlwtt'N IV. 1«77. 4»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/317>, abgerufen am 25.08.2024.