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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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den Stich durch die Spindel, während ihre Schwestern freundliche Gaben
spenden.

Das so fehlende ethische Element trat erst in einer späteren Periode ein,
in der Hel als allgemeine Behausung der Todten angesehen und in ihr eine
Stätte der Belohnung und der Bestrafung unterschieden wurde. In die Uuter-
Welt führt eine Brücke, an der eine Jungfrau, eine Riesin, Wacht hält und
jedem Wandrer vorhält, was er Böses gethan hat. Mit ihr muß er kämpfen,
">u in Hel aufgenommen zu werde". Einen anderen Beweis für die much
mende sittliche Vertiefung legt der Glaube an die Götterdämmerung, den
Weltbrand und die Neuschöpfung der Welt ab. Die religiösen und sittlichen
Baude der Welt lösen sich.


"Brüder befehden sich und füllen einnndee, Geschwisterte, steht man die Sippe brechen.
Unerhörtes ereignet sich, grosicr Ehbruch. Bcilaltcr, Schwertalter, wo Schilde krachen,
Windzeit, Wolfszeit, eh' die Welt zerstiirzt. Der Eine schont des Andern nicht mehr."

Der moralischen Verwüstung folgt die kosmische Zerstörung. Aber ein
"euer Himmel und eine neue Erde entsteht, über welche Baldur herrscht, und
in welcher die redlichen Seelen aller Zeiten weilen.

Wir berühren noch einzelne Vorstellungen ans der germanischen Escha¬
tologie. Die Unterweltsgöttin gilt als die Quelle des Todes, aber auch des
Lebens. Aus ihrem Schoße bricht das Leben hervor, zu ihm kehrt es zurück.
Bei ihr weilen die Seelen vor der Geburt, wie nach dem Tode. Als Ver¬
mittler erscheint der Storch. Im Süden liegt das Laud, wo die Todten
wohnen, dorther bringt er, dorthin trägt er die Seelen. Seine Wanderzüge
von Nord uach Süd, von Süd nach Nord machen ihn zum Repräsentanten
des Wechsels zwischen Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit. Die Seelen, als
in der Unterwelt weilende Wesen, werden auch Heimchen (vielleicht gleich
"Keimchen") genannt, doch bleibt ihr Wesen in geheimnißvolles Dunkel gehüllt.
Neben dein Storch ist es der Schwan, der ans dem geheimnißvollen Lande
die Seelen bringt und zu ihm zurückführt, und so hat auch die Sage vom
Lohengrin eine eschcitolvgische Beziehung. Nicht minder der Mythus vom
wilden Heer. Denn dasselbe ist kein anderes als das Heer der auf dem
Schlachtfeld Gefallenen, das Odin von der Erde nach Walhalla führt.

Wir verzichten darauf, über die Vorstellungen der slavischen Völkerstämme
!U berichten, da die sie berücksichtigenden Nachrichten, die uns überliefert
sind, zu widerspruchsvoll lauten, als daß es möglich wäre, ein einigermaßen
gesichertes Ergebniß zu gewinnen.

Damit hat Spieß die Uebersicht über die heidnischen Eschatologieen be¬
endet, und es sind nur noch das Judenthum und der Muhammedanismus, die


den Stich durch die Spindel, während ihre Schwestern freundliche Gaben
spenden.

Das so fehlende ethische Element trat erst in einer späteren Periode ein,
in der Hel als allgemeine Behausung der Todten angesehen und in ihr eine
Stätte der Belohnung und der Bestrafung unterschieden wurde. In die Uuter-
Welt führt eine Brücke, an der eine Jungfrau, eine Riesin, Wacht hält und
jedem Wandrer vorhält, was er Böses gethan hat. Mit ihr muß er kämpfen,
">u in Hel aufgenommen zu werde». Einen anderen Beweis für die much
mende sittliche Vertiefung legt der Glaube an die Götterdämmerung, den
Weltbrand und die Neuschöpfung der Welt ab. Die religiösen und sittlichen
Baude der Welt lösen sich.


„Brüder befehden sich und füllen einnndee, Geschwisterte, steht man die Sippe brechen.
Unerhörtes ereignet sich, grosicr Ehbruch. Bcilaltcr, Schwertalter, wo Schilde krachen,
Windzeit, Wolfszeit, eh' die Welt zerstiirzt. Der Eine schont des Andern nicht mehr."

Der moralischen Verwüstung folgt die kosmische Zerstörung. Aber ein
"euer Himmel und eine neue Erde entsteht, über welche Baldur herrscht, und
in welcher die redlichen Seelen aller Zeiten weilen.

Wir berühren noch einzelne Vorstellungen ans der germanischen Escha¬
tologie. Die Unterweltsgöttin gilt als die Quelle des Todes, aber auch des
Lebens. Aus ihrem Schoße bricht das Leben hervor, zu ihm kehrt es zurück.
Bei ihr weilen die Seelen vor der Geburt, wie nach dem Tode. Als Ver¬
mittler erscheint der Storch. Im Süden liegt das Laud, wo die Todten
wohnen, dorther bringt er, dorthin trägt er die Seelen. Seine Wanderzüge
von Nord uach Süd, von Süd nach Nord machen ihn zum Repräsentanten
des Wechsels zwischen Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit. Die Seelen, als
in der Unterwelt weilende Wesen, werden auch Heimchen (vielleicht gleich
„Keimchen") genannt, doch bleibt ihr Wesen in geheimnißvolles Dunkel gehüllt.
Neben dein Storch ist es der Schwan, der ans dem geheimnißvollen Lande
die Seelen bringt und zu ihm zurückführt, und so hat auch die Sage vom
Lohengrin eine eschcitolvgische Beziehung. Nicht minder der Mythus vom
wilden Heer. Denn dasselbe ist kein anderes als das Heer der auf dem
Schlachtfeld Gefallenen, das Odin von der Erde nach Walhalla führt.

Wir verzichten darauf, über die Vorstellungen der slavischen Völkerstämme
!U berichten, da die sie berücksichtigenden Nachrichten, die uns überliefert
sind, zu widerspruchsvoll lauten, als daß es möglich wäre, ein einigermaßen
gesichertes Ergebniß zu gewinnen.

Damit hat Spieß die Uebersicht über die heidnischen Eschatologieen be¬
endet, und es sind nur noch das Judenthum und der Muhammedanismus, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/255>, abgerufen am 23.07.2024.