Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Man sieht, daß Lassalle hier über seine Liebschaft noch ziemlich kühl
urtheilt. Aber schon am nächsten Tage nahmen die Dinge eine andere Wen¬
dung. Die Dönniges war die Tochter eines bairischen Diplomaten und Ge¬
sandten. Als sie ihre Eltern um deren Einwilligung in ihre Verlobung mit
einem Manne bat, der mit allen Autoritäten auf dem Kriegsfnße stand und
von der vornehmen Welt wie eine Art Räuberhauptmann betrachtet wurde,
ein Mann überdies, dessen Vergangenheit eine Anklage wegen Verleitung zum
Diebstahle verdunkelte, antworteten jene mit einer entschiedenen Weigerung. In
ihrer Verzweifelung, sagt Brandes, dem wir hier folgen (und wohl auch ihrer
Sinnlichkeit folgend, wie wir nicht ohne Grund vermuthen), verläßt die Dame
das elterliche Hans, läuft zu Lassalle, stürzt in sein Zimmer, gibt sich ganz
in seine Gewalt und bittet ihn, sie als sein Weib zu entführen, da sie ans
anderm Wege nicht die Seine werden könne. In diesem Augenblicke war
Lassalle nicht er selbst. Gleichviel, was die Ursache war, er handelte zum
ersten Male als Spießbürger, als "Gimpel", d. h. er that, was sich, vielleicht
nicht auf der Bühne, nicht im Roman, aber im wirklichen Leben unter so be-
wandten Umständen für einen Mann von Ehre gehörte: statt das hitzige
Fräulein zu entführen, bot er ihr den Arm und geleitete sie zu ihrem Papa
zurück, um bei diesem in herkömmlicher Weise um ihre Hand zu bitten.

Man sperrte den entflognen und wieder zurückgebrachten Vogel einige
Tage ein, und, als Lassalle entdeckte, daß man ihm dem Zutritt zu ihr nicht
mehr gestatten wolle, brach er in Verzweiflung ans. Mit dem hartnäckigen
Vorsatze, Helenen jetzt zu erobern, koste es, was es wolle, verband sich -- nicht
Liebe, sondern eine durch die sich ihm entgegenstellende Schwierigkeit zu
heißester Gluth erhitzte Verliebtheit, deren Stärke ausschließlich auf dem Grolle
über die Schwäche (oder auch die falsche Berechnung) beruhte, mit der er
durch eine rechtschaffne Handlung ein Glück, das ihm in die Arme flog, ver¬
scherzt hatte. (Die falsche Berechnung; denn möglich ist auch, daß er erwartet
hatte, die Eltern des Fräuleins würden seine Großmuth mit ihrem Segen
zu seiner Werbung belohnen, was am Ende nicht unverständig gewesen wäre.)
Während aber Lassalle's Leidenschaft unter dem Eindrucke des Vorgefallenen
auf den Siedepunkt stieg, war durch einen leicht verständlichen psychologischen
Prozeß das junge Mädchen kühler und verständiger geworden. Sie hatte
rücksichtslos Alles auf eine Karte gesetzt, hatte sich dem Gegenstand ihrer
Leidenschaft ganz zur Verfügung gestellt, war ganz in ihm und seinem Willen
aufgegangen. Und man war ihrer Schwärmerei, ihrem Opfer mit Vernunft-
erwägungen begegnet. Es war also nicht gerade zu verwundern, wenn ihr
Erglühen für den, welchen sie "ihren schönen, herrlichen Adler" genannt hatte,
von dem Angenblicke an, wo der Adler sich in einen Gimpel zu verwandeln


Man sieht, daß Lassalle hier über seine Liebschaft noch ziemlich kühl
urtheilt. Aber schon am nächsten Tage nahmen die Dinge eine andere Wen¬
dung. Die Dönniges war die Tochter eines bairischen Diplomaten und Ge¬
sandten. Als sie ihre Eltern um deren Einwilligung in ihre Verlobung mit
einem Manne bat, der mit allen Autoritäten auf dem Kriegsfnße stand und
von der vornehmen Welt wie eine Art Räuberhauptmann betrachtet wurde,
ein Mann überdies, dessen Vergangenheit eine Anklage wegen Verleitung zum
Diebstahle verdunkelte, antworteten jene mit einer entschiedenen Weigerung. In
ihrer Verzweifelung, sagt Brandes, dem wir hier folgen (und wohl auch ihrer
Sinnlichkeit folgend, wie wir nicht ohne Grund vermuthen), verläßt die Dame
das elterliche Hans, läuft zu Lassalle, stürzt in sein Zimmer, gibt sich ganz
in seine Gewalt und bittet ihn, sie als sein Weib zu entführen, da sie ans
anderm Wege nicht die Seine werden könne. In diesem Augenblicke war
Lassalle nicht er selbst. Gleichviel, was die Ursache war, er handelte zum
ersten Male als Spießbürger, als „Gimpel", d. h. er that, was sich, vielleicht
nicht auf der Bühne, nicht im Roman, aber im wirklichen Leben unter so be-
wandten Umständen für einen Mann von Ehre gehörte: statt das hitzige
Fräulein zu entführen, bot er ihr den Arm und geleitete sie zu ihrem Papa
zurück, um bei diesem in herkömmlicher Weise um ihre Hand zu bitten.

Man sperrte den entflognen und wieder zurückgebrachten Vogel einige
Tage ein, und, als Lassalle entdeckte, daß man ihm dem Zutritt zu ihr nicht
mehr gestatten wolle, brach er in Verzweiflung ans. Mit dem hartnäckigen
Vorsatze, Helenen jetzt zu erobern, koste es, was es wolle, verband sich — nicht
Liebe, sondern eine durch die sich ihm entgegenstellende Schwierigkeit zu
heißester Gluth erhitzte Verliebtheit, deren Stärke ausschließlich auf dem Grolle
über die Schwäche (oder auch die falsche Berechnung) beruhte, mit der er
durch eine rechtschaffne Handlung ein Glück, das ihm in die Arme flog, ver¬
scherzt hatte. (Die falsche Berechnung; denn möglich ist auch, daß er erwartet
hatte, die Eltern des Fräuleins würden seine Großmuth mit ihrem Segen
zu seiner Werbung belohnen, was am Ende nicht unverständig gewesen wäre.)
Während aber Lassalle's Leidenschaft unter dem Eindrucke des Vorgefallenen
auf den Siedepunkt stieg, war durch einen leicht verständlichen psychologischen
Prozeß das junge Mädchen kühler und verständiger geworden. Sie hatte
rücksichtslos Alles auf eine Karte gesetzt, hatte sich dem Gegenstand ihrer
Leidenschaft ganz zur Verfügung gestellt, war ganz in ihm und seinem Willen
aufgegangen. Und man war ihrer Schwärmerei, ihrem Opfer mit Vernunft-
erwägungen begegnet. Es war also nicht gerade zu verwundern, wenn ihr
Erglühen für den, welchen sie „ihren schönen, herrlichen Adler" genannt hatte,
von dem Angenblicke an, wo der Adler sich in einen Gimpel zu verwandeln


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0504" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/138205"/>
          <p xml:id="ID_1437"> Man sieht, daß Lassalle hier über seine Liebschaft noch ziemlich kühl<lb/>
urtheilt. Aber schon am nächsten Tage nahmen die Dinge eine andere Wen¬<lb/>
dung. Die Dönniges war die Tochter eines bairischen Diplomaten und Ge¬<lb/>
sandten. Als sie ihre Eltern um deren Einwilligung in ihre Verlobung mit<lb/>
einem Manne bat, der mit allen Autoritäten auf dem Kriegsfnße stand und<lb/>
von der vornehmen Welt wie eine Art Räuberhauptmann betrachtet wurde,<lb/>
ein Mann überdies, dessen Vergangenheit eine Anklage wegen Verleitung zum<lb/>
Diebstahle verdunkelte, antworteten jene mit einer entschiedenen Weigerung. In<lb/>
ihrer Verzweifelung, sagt Brandes, dem wir hier folgen (und wohl auch ihrer<lb/>
Sinnlichkeit folgend, wie wir nicht ohne Grund vermuthen), verläßt die Dame<lb/>
das elterliche Hans, läuft zu Lassalle, stürzt in sein Zimmer, gibt sich ganz<lb/>
in seine Gewalt und bittet ihn, sie als sein Weib zu entführen, da sie ans<lb/>
anderm Wege nicht die Seine werden könne. In diesem Augenblicke war<lb/>
Lassalle nicht er selbst. Gleichviel, was die Ursache war, er handelte zum<lb/>
ersten Male als Spießbürger, als &#x201E;Gimpel", d. h. er that, was sich, vielleicht<lb/>
nicht auf der Bühne, nicht im Roman, aber im wirklichen Leben unter so be-<lb/>
wandten Umständen für einen Mann von Ehre gehörte: statt das hitzige<lb/>
Fräulein zu entführen, bot er ihr den Arm und geleitete sie zu ihrem Papa<lb/>
zurück, um bei diesem in herkömmlicher Weise um ihre Hand zu bitten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1438" next="#ID_1439"> Man sperrte den entflognen und wieder zurückgebrachten Vogel einige<lb/>
Tage ein, und, als Lassalle entdeckte, daß man ihm dem Zutritt zu ihr nicht<lb/>
mehr gestatten wolle, brach er in Verzweiflung ans. Mit dem hartnäckigen<lb/>
Vorsatze, Helenen jetzt zu erobern, koste es, was es wolle, verband sich &#x2014; nicht<lb/>
Liebe, sondern eine durch die sich ihm entgegenstellende Schwierigkeit zu<lb/>
heißester Gluth erhitzte Verliebtheit, deren Stärke ausschließlich auf dem Grolle<lb/>
über die Schwäche (oder auch die falsche Berechnung) beruhte, mit der er<lb/>
durch eine rechtschaffne Handlung ein Glück, das ihm in die Arme flog, ver¬<lb/>
scherzt hatte. (Die falsche Berechnung; denn möglich ist auch, daß er erwartet<lb/>
hatte, die Eltern des Fräuleins würden seine Großmuth mit ihrem Segen<lb/>
zu seiner Werbung belohnen, was am Ende nicht unverständig gewesen wäre.)<lb/>
Während aber Lassalle's Leidenschaft unter dem Eindrucke des Vorgefallenen<lb/>
auf den Siedepunkt stieg, war durch einen leicht verständlichen psychologischen<lb/>
Prozeß das junge Mädchen kühler und verständiger geworden. Sie hatte<lb/>
rücksichtslos Alles auf eine Karte gesetzt, hatte sich dem Gegenstand ihrer<lb/>
Leidenschaft ganz zur Verfügung gestellt, war ganz in ihm und seinem Willen<lb/>
aufgegangen. Und man war ihrer Schwärmerei, ihrem Opfer mit Vernunft-<lb/>
erwägungen begegnet. Es war also nicht gerade zu verwundern, wenn ihr<lb/>
Erglühen für den, welchen sie &#x201E;ihren schönen, herrlichen Adler" genannt hatte,<lb/>
von dem Angenblicke an, wo der Adler sich in einen Gimpel zu verwandeln</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0504] Man sieht, daß Lassalle hier über seine Liebschaft noch ziemlich kühl urtheilt. Aber schon am nächsten Tage nahmen die Dinge eine andere Wen¬ dung. Die Dönniges war die Tochter eines bairischen Diplomaten und Ge¬ sandten. Als sie ihre Eltern um deren Einwilligung in ihre Verlobung mit einem Manne bat, der mit allen Autoritäten auf dem Kriegsfnße stand und von der vornehmen Welt wie eine Art Räuberhauptmann betrachtet wurde, ein Mann überdies, dessen Vergangenheit eine Anklage wegen Verleitung zum Diebstahle verdunkelte, antworteten jene mit einer entschiedenen Weigerung. In ihrer Verzweifelung, sagt Brandes, dem wir hier folgen (und wohl auch ihrer Sinnlichkeit folgend, wie wir nicht ohne Grund vermuthen), verläßt die Dame das elterliche Hans, läuft zu Lassalle, stürzt in sein Zimmer, gibt sich ganz in seine Gewalt und bittet ihn, sie als sein Weib zu entführen, da sie ans anderm Wege nicht die Seine werden könne. In diesem Augenblicke war Lassalle nicht er selbst. Gleichviel, was die Ursache war, er handelte zum ersten Male als Spießbürger, als „Gimpel", d. h. er that, was sich, vielleicht nicht auf der Bühne, nicht im Roman, aber im wirklichen Leben unter so be- wandten Umständen für einen Mann von Ehre gehörte: statt das hitzige Fräulein zu entführen, bot er ihr den Arm und geleitete sie zu ihrem Papa zurück, um bei diesem in herkömmlicher Weise um ihre Hand zu bitten. Man sperrte den entflognen und wieder zurückgebrachten Vogel einige Tage ein, und, als Lassalle entdeckte, daß man ihm dem Zutritt zu ihr nicht mehr gestatten wolle, brach er in Verzweiflung ans. Mit dem hartnäckigen Vorsatze, Helenen jetzt zu erobern, koste es, was es wolle, verband sich — nicht Liebe, sondern eine durch die sich ihm entgegenstellende Schwierigkeit zu heißester Gluth erhitzte Verliebtheit, deren Stärke ausschließlich auf dem Grolle über die Schwäche (oder auch die falsche Berechnung) beruhte, mit der er durch eine rechtschaffne Handlung ein Glück, das ihm in die Arme flog, ver¬ scherzt hatte. (Die falsche Berechnung; denn möglich ist auch, daß er erwartet hatte, die Eltern des Fräuleins würden seine Großmuth mit ihrem Segen zu seiner Werbung belohnen, was am Ende nicht unverständig gewesen wäre.) Während aber Lassalle's Leidenschaft unter dem Eindrucke des Vorgefallenen auf den Siedepunkt stieg, war durch einen leicht verständlichen psychologischen Prozeß das junge Mädchen kühler und verständiger geworden. Sie hatte rücksichtslos Alles auf eine Karte gesetzt, hatte sich dem Gegenstand ihrer Leidenschaft ganz zur Verfügung gestellt, war ganz in ihm und seinem Willen aufgegangen. Und man war ihrer Schwärmerei, ihrem Opfer mit Vernunft- erwägungen begegnet. Es war also nicht gerade zu verwundern, wenn ihr Erglühen für den, welchen sie „ihren schönen, herrlichen Adler" genannt hatte, von dem Angenblicke an, wo der Adler sich in einen Gimpel zu verwandeln

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/504
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/504>, abgerufen am 23.07.2024.