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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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auf diese Klagen zurück und zwar an der Hand einer Schrift des Gymnasial¬
direktors A. Lehmann*), die sich "Sprachliche Sünden der Gegen¬
wart" nennt, zu Braunschweig, im Verlag von Fr. Wreden soeben erschienen
ist und dem deutschen Publikum ein langes Sündenregister entgegenhält, welches
der Verfasser auf dem Gebiete der Syntax gesammelt hat. Dasselbe zerfällt
in vier Abschnitte, deren erster sich die Aufgabe stellt, die Begleiter der Sub¬
stantiven und Adjektiven nach den Gesetzen der Grammatik einer Prüfung zu
unterziehen und zu zeigen, wie oft und wie grob Laune, Willkür und Nach¬
lässigkeit hier Unsinn geschrieben und Unfug getrieben haben. Der zweite be¬
handelt dann die Böcke und Schnitzer, die beim Gebrauche des Wortes Und
vorkommen, wenn es der Verbindung zweier Haupt- oder zweier Nebensätze
oder endlich eines Satzgliedes mit einem Satze gilt. Der dritte Saal unseres
Kuriositätenkabinets enthält in seinen Gläsern und Büchsen die Mißgeburten
und Afterbildungen, welche liederliche und gedankenlose Behandlung der Parti¬
zipien, besonders der absoluten erzeugt hat. Der vierte endlich legt uns in
sechs Herbarien die Masse von Unkraut vor, welches auf den Gebieten des
Periodenbaus, der Apposition, der Pleonasmen, der Stellung des Verbums,
der mit "weise" endigenden Adjektiven und der Verschmelzung der Präposition
mit dem Artikel gewachsen ist und noch täglich wächst. Mit dem Wunsche,
beizutragen, daß diese sehr dankenswerthe Arbeit allgemeine Beachtung finde,
geben wir in den nachstehenden Auszügen einen Ueberblick über den Inhalt
derselben, soweit es sich um Mißhandlung der Sprache handelt.

Die Regel will: ist ein Begriff einem andern subordinire, so läßt er sich
in Form eines Adverbs diesem in Form eines Adjektivs auftretenden andern
Begriffe vorausschicken; auch darf dieser letztere als Adverb sich mitsammt dem
ersteren einem dritten adjektivischen Begriff zum Behuf der Spezialisirung unter¬
ordnen. Aber niemals lassen sich zwei oder drei koordinirte Begriffe in die
mit einander nicht koordinirten Formen eines Adverbs und eines Adjektivs
kleiden. Gegen diese Vorschrift fehlen außer vielen Schriftstellern und Dichtern
dritter und vierter Größe auch Klassiker ersten Ranges. Bei Goethe lesen
wir u. A.: "Eine anliegend freundliche Wohnung", "grün gesenkte Wiesen"
"auf menschlich beiden Füßen", "tüchtig büchene Kohlen", bei Schiller: "Himmel-
stürmend hunderthändige" und "unfreiwillig schwerer Abschied."

Ein andere Regel verlangt: wenn das Adjektiv dem Substantiv undeklinirt
nachgestellt ist, so kann seine Begleitung nicht allein vor ihm, sondern auch
nach ihm stehen, ist es aber dem Substantiv vorangestellt und demzufolge de-
Mnirt, so muß seine Begleitung ihm vorangehen. Es ist daher falsch, zu



*) Bekannt durch seine Schrift über Goethe's Sprache.

auf diese Klagen zurück und zwar an der Hand einer Schrift des Gymnasial¬
direktors A. Lehmann*), die sich „Sprachliche Sünden der Gegen¬
wart" nennt, zu Braunschweig, im Verlag von Fr. Wreden soeben erschienen
ist und dem deutschen Publikum ein langes Sündenregister entgegenhält, welches
der Verfasser auf dem Gebiete der Syntax gesammelt hat. Dasselbe zerfällt
in vier Abschnitte, deren erster sich die Aufgabe stellt, die Begleiter der Sub¬
stantiven und Adjektiven nach den Gesetzen der Grammatik einer Prüfung zu
unterziehen und zu zeigen, wie oft und wie grob Laune, Willkür und Nach¬
lässigkeit hier Unsinn geschrieben und Unfug getrieben haben. Der zweite be¬
handelt dann die Böcke und Schnitzer, die beim Gebrauche des Wortes Und
vorkommen, wenn es der Verbindung zweier Haupt- oder zweier Nebensätze
oder endlich eines Satzgliedes mit einem Satze gilt. Der dritte Saal unseres
Kuriositätenkabinets enthält in seinen Gläsern und Büchsen die Mißgeburten
und Afterbildungen, welche liederliche und gedankenlose Behandlung der Parti¬
zipien, besonders der absoluten erzeugt hat. Der vierte endlich legt uns in
sechs Herbarien die Masse von Unkraut vor, welches auf den Gebieten des
Periodenbaus, der Apposition, der Pleonasmen, der Stellung des Verbums,
der mit „weise" endigenden Adjektiven und der Verschmelzung der Präposition
mit dem Artikel gewachsen ist und noch täglich wächst. Mit dem Wunsche,
beizutragen, daß diese sehr dankenswerthe Arbeit allgemeine Beachtung finde,
geben wir in den nachstehenden Auszügen einen Ueberblick über den Inhalt
derselben, soweit es sich um Mißhandlung der Sprache handelt.

Die Regel will: ist ein Begriff einem andern subordinire, so läßt er sich
in Form eines Adverbs diesem in Form eines Adjektivs auftretenden andern
Begriffe vorausschicken; auch darf dieser letztere als Adverb sich mitsammt dem
ersteren einem dritten adjektivischen Begriff zum Behuf der Spezialisirung unter¬
ordnen. Aber niemals lassen sich zwei oder drei koordinirte Begriffe in die
mit einander nicht koordinirten Formen eines Adverbs und eines Adjektivs
kleiden. Gegen diese Vorschrift fehlen außer vielen Schriftstellern und Dichtern
dritter und vierter Größe auch Klassiker ersten Ranges. Bei Goethe lesen
wir u. A.: „Eine anliegend freundliche Wohnung", „grün gesenkte Wiesen"
»auf menschlich beiden Füßen", „tüchtig büchene Kohlen", bei Schiller: „Himmel-
stürmend hunderthändige" und „unfreiwillig schwerer Abschied."

Ein andere Regel verlangt: wenn das Adjektiv dem Substantiv undeklinirt
nachgestellt ist, so kann seine Begleitung nicht allein vor ihm, sondern auch
nach ihm stehen, ist es aber dem Substantiv vorangestellt und demzufolge de-
Mnirt, so muß seine Begleitung ihm vorangehen. Es ist daher falsch, zu



*) Bekannt durch seine Schrift über Goethe's Sprache.
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[0351] auf diese Klagen zurück und zwar an der Hand einer Schrift des Gymnasial¬ direktors A. Lehmann*), die sich „Sprachliche Sünden der Gegen¬ wart" nennt, zu Braunschweig, im Verlag von Fr. Wreden soeben erschienen ist und dem deutschen Publikum ein langes Sündenregister entgegenhält, welches der Verfasser auf dem Gebiete der Syntax gesammelt hat. Dasselbe zerfällt in vier Abschnitte, deren erster sich die Aufgabe stellt, die Begleiter der Sub¬ stantiven und Adjektiven nach den Gesetzen der Grammatik einer Prüfung zu unterziehen und zu zeigen, wie oft und wie grob Laune, Willkür und Nach¬ lässigkeit hier Unsinn geschrieben und Unfug getrieben haben. Der zweite be¬ handelt dann die Böcke und Schnitzer, die beim Gebrauche des Wortes Und vorkommen, wenn es der Verbindung zweier Haupt- oder zweier Nebensätze oder endlich eines Satzgliedes mit einem Satze gilt. Der dritte Saal unseres Kuriositätenkabinets enthält in seinen Gläsern und Büchsen die Mißgeburten und Afterbildungen, welche liederliche und gedankenlose Behandlung der Parti¬ zipien, besonders der absoluten erzeugt hat. Der vierte endlich legt uns in sechs Herbarien die Masse von Unkraut vor, welches auf den Gebieten des Periodenbaus, der Apposition, der Pleonasmen, der Stellung des Verbums, der mit „weise" endigenden Adjektiven und der Verschmelzung der Präposition mit dem Artikel gewachsen ist und noch täglich wächst. Mit dem Wunsche, beizutragen, daß diese sehr dankenswerthe Arbeit allgemeine Beachtung finde, geben wir in den nachstehenden Auszügen einen Ueberblick über den Inhalt derselben, soweit es sich um Mißhandlung der Sprache handelt. Die Regel will: ist ein Begriff einem andern subordinire, so läßt er sich in Form eines Adverbs diesem in Form eines Adjektivs auftretenden andern Begriffe vorausschicken; auch darf dieser letztere als Adverb sich mitsammt dem ersteren einem dritten adjektivischen Begriff zum Behuf der Spezialisirung unter¬ ordnen. Aber niemals lassen sich zwei oder drei koordinirte Begriffe in die mit einander nicht koordinirten Formen eines Adverbs und eines Adjektivs kleiden. Gegen diese Vorschrift fehlen außer vielen Schriftstellern und Dichtern dritter und vierter Größe auch Klassiker ersten Ranges. Bei Goethe lesen wir u. A.: „Eine anliegend freundliche Wohnung", „grün gesenkte Wiesen" »auf menschlich beiden Füßen", „tüchtig büchene Kohlen", bei Schiller: „Himmel- stürmend hunderthändige" und „unfreiwillig schwerer Abschied." Ein andere Regel verlangt: wenn das Adjektiv dem Substantiv undeklinirt nachgestellt ist, so kann seine Begleitung nicht allein vor ihm, sondern auch nach ihm stehen, ist es aber dem Substantiv vorangestellt und demzufolge de- Mnirt, so muß seine Begleitung ihm vorangehen. Es ist daher falsch, zu *) Bekannt durch seine Schrift über Goethe's Sprache.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/351>, abgerufen am 23.07.2024.